Der Konkurrenzkampf der Buchverlage um einen begrenzt dehnbaren Leser-Markt wird immer erbitterter und trickreicher. Dazu gehört, dass Autoren mit ihren Erstlingswerke schnell zu neuen Updikes und Hemingways erklärt werden, obwohl die Bemessungsgrundlage vorläufig nur ein Anhaltspunkt ist. Vorsicht bleibt daher in solchen Fällen die Mutter der Bücherkiste. Der Verlagsrummel um mehrere jüngere US-amerikanische Autoren (etwa Marisha Pessl, Benjamin Kunkel) ist dafür Beleg - und für die Autoren vermutlich Belastung genug, solchen Vorschuss-Rucksack womöglich nicht mit der Gelassenheit zu tragen, die einen würdigen Nachfolger auf einen erfolgversprechenden Erstling wahrscheinlich macht. Das kann auch J. R.
Moehringer blühen, obwohl er von der »New York Times«, in der er als Volontär einige seltsame, dem Weltblatt nicht nur zur Ehre gereichende Ausbildungserfahrung sammelte, für sein nun hier vorliegendes Romandebüt »Tender Bar« gefeiert wird als »rauchige Stimme der amerikanischen Literatur, so rauchig und herzzerreißend wie Sinatra«.
Moehringer (42) ist heute Korrespondent für die Bundespolitik in der »Los Angeles Times«. 2000 erhielt der ehemalige Harvard-Student den Pulitzer-Preis für das Porträt eines abgehängten Flussstädtchens in Alabama, in dem viele Bewohner Sklaven-Nachkommen sind. Moehringers Debüt, 2005 in den USA von großen Zeitungen zum »Buch des Jahres« gewählt - das sind die Memoiren eines Unbekannten mit dem Zeug zum Weltruhm. Verdient. Diese Vorhersage hier trotz der selbst errichteten Eingangswarnung. Das Buch über Kindheit und Jugend des Verfassers ist eine skurrile und wunderbar selbstironische Geschichte. Sie spielt in Manhasset auf Long Island bei New York, mit Ausflügen nach New Haven, wo
Moehringer an der berühmten Universität ein mäßig erfolgreicher »Yalie«, und nach Arizona, wo er zeitweilig mit seiner alleinerziehenden, willens- und charakterstarken Mutter auch nicht direkt vom Glück verfolgt wird, sieht man von einer Abenteuerfahrt mit Zelt in die Berge sowie seinem ersten Geschlechtsverkehr auf einem Felsplateau ab. Dessen Begleitumstände hätten Chancen, in einem Literaturwettbewerb um die anrührendste und komischste Sexszene ganz vorn zu landen. Vor allem jedoch ist das Buch die Geschichte um eine Kneipe in Manhasset, in der der vaterlose Junge einen Gutteil seiner Kindheit und den Hauptteil seiner Lebensweisheit aufschnappt, sowie um das wenig einladende Haus seines Opas, das zur unfreiwilligen Herberge der sich nur knapp über die Runden rettenden Familienmitglieder wird. »Tender Bar« ist ein Roman voller Erzähltempo. Er stürzt den Leser in ein Dilemma aus Freude und Sorge: Freude und Anteilnahme am Schicksal des ohne den ausgebüchsten Vater, dafür ersatzweise mit den Melodien von Frank Sinatra aufwachsenden Jungen. Angst und Sorge, der Autor könne den Spannungsbogen unmöglich über die Gänze des Buches halten. Die Sorge ist unbegründet.
Moehringer erweist sich als meisterhafter Charakterzeichner; als begnadeter Zuhörer und als ein Autor, der seine Charaktere mit Lebendigkeit, ihre Ziele mit Ehrbarkeit und ihr durchschnittliches Alltagsscheitern mit solchen Gemeinsamkeiten ausstattet, dass am Ende Lebenswege entstehen, die Mut und Spaß machen und den Leser trösten. Der Roman ist sehr amerikanisch in seiner Immer-wieder-aufstehen- egal- was- passiert- Mentalität. Und er ist liebenswert unamerikanisch in seinen wieder und wieder durchbrechenden Zweifeln und Selbstzweifeln, die den Einzelnen kenntlich und menschlich machen. Zum Abschluss zwei Originaltöne. Zur Frage, warum so viele die Bar besuchten: »Wir gingen hin, weil wir dort alles bekamen. Wir gingen hin, wenn wir Durst hatten, versteht sich, aber auch wenn wir hungrig waren oder hundemüde. Wenn wir glücklich waren, gingen wir hin, um zu feiern, wenn wir traurig waren, um Trübsal zu blasen. Nach Hochzeiten und Begräbnissen gingen wir hin, um unsere Nerven zu beruhigen, und vorher, um uns schnell Mut anzutrinken. Wir gingen hin, wenn wir nicht wussten, was wir brauchten, in der Hoffnung, jemand könnte es uns sagen. Wir gingen hin, wenn wir Liebe suchten oder Sex oder Ärger oder wenn jemand verschwunden war, denn früher oder später tauchte dort jeder auf. Vor allem aber gingen wir hin, um uns finden zu lassen.« Und
Moehringer, der Ich-Erzähler, bekennt seine relative Schüchternheit gegenüber dem anderen Geschlecht, als er sich in der »New York Times« in eine andere Volontärin verknallt, die ihn an seine große Liebe in Yale erinnert. Wenn diese junge Dame durch die Redaktion schwebte, berichtet der Betörte, »hörten alle Volontäre auf, Durchschläge zu trennen, und alle Redakteure (auch einige Redakteurinnen) hörten auf zu lesen, um sie über die Ränder ihrer Bifokalbrillen zu beobachten. Sie zog Parfümschwaden hinter sich her wie ein durchsichtiges rotes Banner, und ich ging oft absichtlich in ihrem Sog, um einen Hauch zu erhaschen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich ihr nähern könnte, und meine Hilflosigkeit und Verwirrung gaben mir zu denken. Meine Probleme mit Frauen, fürchtete ich, rührten von einer Persönlichkeitsstörung, die ich mir selbst als übersteigerte Empathie diagnostizierte. Erzogen von meiner Mutter, umsorgt von Oma, beeinflusst von Sheryl, hatte ich mir den weiblichen Standpunkt zu Eigen gemacht. Alle Frauen, die versucht hatten, einen Mann aus mir zu machen, hatten das Gegenteil erreicht. Und deshalb hatte ich Probleme, mich Frauen zu nähern. Ich mochte sie zu sehr und glich ihnen zu sehr, um sie als Freiwild zu betrachten.« Wer befürchtet,
Moehringer habe mit »Tender Bar« eine Verherrlichung des Alkoholismus vorgelegt, soll wissen, dass er in seiner Kinderstuben-Kneipe auch zu hören bekam, dass das Trinken die einzige Tätigkeit sei, bei der man nicht besser werde, je öfter man sie ausübe. Wer vermutet,
Moehringer habe mit seinem Roman etwas geschaffen, was die weibliche Seele besonders streichelt, der sei darin bestärkt: Viele werden auch in Deutschland das herrliche Buch lesen, des inzwischen auf den Bestsellerlisten steht. Frauen werden es lieben.
Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen.
Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf
www.dasnd.de/genossenschaft