Internationalismus als Selbstverteidigung

Der Ryanair-Streik zeigt, wie internationale Gewerkschaftskooperation aussehen sollte, meint Elmar Wigand

  • Elmar Wigand
  • Lesedauer: 3 Min.

Ereignisse von historischer Bedeutung haben die Angewohnheit, dass sie von den Zeitgenossen zunächst nicht erkannt werden. Sie passieren ganz einfach, so scheint es. Gestern legten Piloten aus Deutschland, Belgien, Irland, Schweden und den Niederlanden die Billigfluglinie Ryanair mitten in der Urlaubszeit zu großen Teilen lahm. Es war der erste länderübergreifende Streik in der 34-jährigen Geschichte der nach Passagierzahlen größten europäischen Airline.

Ich muss lange suchen, bis ich Vergleichbares in der europäischen Gewerkschaftsbewegung finde: Am 10. Januar 2006 streikten über 40.000 Hafenarbeiter in ganz Europa erfolgreich gegen die Liberalisierung ihrer Arbeitsbedingungen. Das Gesetzesvorhaben Port Package II wurde von der EU zurückgezogen. Das ist zwölf lange Jahre her. Jahre, in denen die Europäische Union gescheitert ist. Denn eine dringend notwendige europäische Vereinigung von unten - eine Union der Beschäftigten und ihrer Organisationen - ist seither nicht vorangekommen. Das ist der blinde Fleck jener Politiker und Gewerkschafter - auch aus der Linken -, die stets reflexartig bedingungslose Bekenntnisse zu »Europa« einfordern, aber die grundlegende Asymmetrie zwischen Arbeit und Kapital nicht sehen wollen. Die somit nicht begreifen, woher die Enttäuschung und Wut der Lohnabhängigen auf Europa rührt.

Das Bild einer Europäischen Union, in der die Lohnabhängigen in einem Hauen und Stechen um Arbeitsplätze und Standortvorteile quasi übereinander herfallen, wird durch genau solche Konzerne wie Ryanair erzeugt. Der ehemalige KPMG-Berater Michael O’Leary hat Ryanair in der Finanzoase Irland nach allen Regeln der Steuervermeidung aufgebaut. Ryanair spielt Beschäftigte an 87 europäischen Standorten durch stetig verfeinerte Schlupflöcher, ausgefuchste Konstruktionen und Umgehungsstrategien gegeneinander aus.

Als die irischen Piloten die aktuelle Streikbewegung bei Ryanair am 12. Juli 2018 begannen, reagierte das Management prompt. 20 Prozent der Jobs wurden gestrichen und nach Polen verlagert. Der aufstrebende Billigflieger Wizz Air des US-Investoren Bill Franke nutzt Ungarn als Plattform für die Eroberung Europas. Personal rekrutiert man bevorzugt in Ländern mit hoher Jugendarbeitslosigkeit. Es wird gnadenlos hin- und hergeschoben. Zu den Streikforderungen gehört auch, dass die teils wahnwitzigen Transfers zwischen den Flügen endlich als Arbeitszeit bezahlt werden.

Schon die Internationale Arbeiterassoziation, deren Gründungsansprache ein gewisser Karl Marx verfasste, folgte 1864 in London der Erkenntnis, dass grenzübergreifende Kooperation das einzige Mittel der Arbeiterschaft ist, um sich gegen die Globalisierung des Kapitals zu wehren. Der Gründungsimpuls der Internationale war weniger das Streben nach dem Sozialismus als pure Selbstverteidigung gegen Streikbrecheraktivitäten. Unternehmer nutzten Arbeitsmigranten, um Belegschaften zu spalten. Mithilfe kurzfristig eingeschiffter Kolonnen, die in Unkenntnis der lokalen Sachlage unter falschen Vorgaben, ohne Sprachkenntnisse angeheuert wurden, konnten Streikende von spezialisierten Agenturen kostengünstig ersetzt werden - die historischen Vorläufer der Leiharbeit.

Wir müssen traurigerweise zugeben, dass es im Jahr 2018 zwar zivilisierter zugeht als damals - man bekämpft sich vor Gericht statt vor den Werkstoren -, substanzielle Fortschritte aber ansonsten rar sind. Die solidarische Kooperation von Gewerkschaften verschiedener Länder ist auf deprimierende Weise unterentwickelt.

Auch deshalb wünsche ich den Piloten sowie dem Kabinenpersonal bei Ryanair, das vor zwei Wochen bereits 600 Flüge europaweit stoppte, alles Gute und viel Erfolg! Weil sie ein europäisches Leuchtfeuer entfachen. Ob es ein einzelnes Licht in der Dunkelheit bleibt oder Nachahmer findet, muss die Geschichte zeigen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.