Auf Skepsis folgt große Freude

Türkei: Nach 14 Monaten U-Haft wurde Menschenrechtler Taner Kılıç überraschend entlassen

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 3 Min.

Als am Mittwoch die Nachricht kam, ein Gericht in Istanbul habe die Freilassung des Menschenrechtlers Taner Kılıç angeordnet, war die Freude bei der türkischen Sektion von Amnesty International, deren Ehrenvorsitzender Kılıç ist, zunächst noch verhalten. Denn Anfang Februar war schon ein einmal eine solche Entscheidung getroffen worden, damals legte die Staatsanwaltschaft umgehend Berufung ein, ein zweites Gericht gab dieser statt, das erste Gericht widerrief seine eigene Entscheidung - und noch ehe Kılıç das Gefängnis verlassen konnte, wurde er dort erneut verhaftet. Doch diesmal geschah nichts dergleichen. Am Mittwochabend konnte der 49-jährige die Haftanstalt in Izmir tatsächlich verlassen, in der er seit 14 Monaten in Untersuchungshaft saß.

Der Prozess gegen Kılıç wird indes fortgesetzt, er ist nach wie vor angeklagt wegen angeblicher Terrorunterstützung - gemeinsam mit zehn weiteren, darunter die Direktorin von Amnesty in der Türkei, Idil Eser. Die zehn Mitangeklagten waren im Juli 2017 während eines Workshops auf der Insel Büyükada bei Istanbul festgenommen worden, Kılıç saß da bereits seit wenigen Wochen im Gefängnis, die Verfahren wurden jedoch zusammengelegt. Dieser »Büyükada-Prozess« wurde im europäischen Ausland vor allem deshalb wahrgenommen, weil unter den Angeklagten auch der Schwede Ali Gharavi und der Deutsche Peter Steudtner sind. Beide wurden im Oktober 2017 aus der Untersuchungshaft entlassen und sind in ihre Heimatländer zurückgekehrt.

»Wir sind erleichtert, dass Taner Kılıç endlich auf freiem Fuß ist. Über 400 Tage musste er unschuldig hinter türkischen Gefängnisgittern verbringen, obwohl alle Anklagepunkte mit Beweisen widerlegt wurden«, sagte Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland am Mittwoch. Seine Inhaftierung sei ein »überdeutlicher Beleg« dafür, wie in der Türkei die Justiz instrumentalisiert werde, so Beeko.

In der Tat scheint auch die Freilassung ein weiteres Indiz dafür zu sein, dass die Gewaltenteilung in der Türkei de facto nicht mehr existiert, sondern Gerichte politischen Weisungen folgen - besonders, wenn man berücksichtigt, was in den Stunden vor der Entscheidung über Kılıçs Freilassung geschah. Denn diese war nicht die einzige überraschende Wende der vergangenen Tage. Bereits am Dienstag wurden zwei griechische Soldaten nach mehrmonatiger Untersuchungshaft entlassen.

Die beiden Militärs, denen Spionage vorgeworfen wird, waren im März von einer türkischen Patrouille an der gemeinsamen Grenze festgenommen worden. Sie gaben an, die Grenze aus Versehen passiert zu haben. Ihre Inhaftierung hatte das griechisch-türkische Verhältnis zuletzt stark belastet. Nach der plötzlichen Freilassung am Dienstag begrüßte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker den Schritt. In einer Erklärung des griechischen Regierungschefs Alexis Tsipras hieß es: »Die Freilassung ist ein Akt der Gerechtigkeit und wird die Freundschaft, die gute Nachbarschaft und die Stabilität in der Region stärken.«

Offenbar ist die türkische Staatsführung darum bemüht, die diplomatischen Wogen mit Staaten der Europäischen Union zu glätten, nachdem hier in den vergangenen zwei Jahren viel Porzellan zerschlagen wurde. Wegen der akuten Währungskrise ist das Land in einer schwachen Position - zudem ist das Verhältnis zu den USA schwer belastet. Hier könnte der türkischen Staatsführung etwas mehr Nähe zur EU nützlich sein.

Kurz nachdem die Entscheidung über Kılıçs Freilassung fiel, wies dann auch ein anderes Gericht einen Antrag zurück, den US-Pastor Andrew Brunson aus der U-Haft zu entlassen. Die Inhaftierung Brunsons ist ein Politikum und seit Monaten steter Quell des Streits mit den USA. Dort wiederum lebt Fethullah Gülen im Exil, also jener islamische Prediger, dessen Bewegung der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan die Schuld für den gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 gibt - und den er von all seinen Gegnern derzeit wohl am liebsten hinter Gittern sähe.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -