- Politik
- Ein Dokument der Zeitgeschichte
»Wie sehr Sie sich irren«
Ein Dokument der Zeitgeschichte: Der Schriftsteller Ota Filip kritisierte 1968 in einem Brief an »Neues Deutschland« die »hysterische Propagandakampagne« gegen die Tschechoslowakei
Genossen!
Am 16. Juli 1968 habe ich in Rostock in der Redaktion der »Ostsee-Zeitung« für die Redaktion des »Neuen Deutschlands« einen Brief abgegeben, in welchem ich gegen die Lügen und gegen die hysterische Propagandakampagne, die Sie gegen mein Land führen, scharf protestierte.
Dass der Brief jetzt publiziert werden kann, ist einem ehemaligen nd-Kollegen zu verdanken, der sich in ein paar Archivordner vertiefte, die die Zeiten überdauerten. Der Name Ota Filip fiel ihm auf, denn Filip ist einer der prominentesten tschechoslowakischen Schriftsteller, die sich in den 60er Jahren für eine Demokratisierung des Sozialismus einsetzten.
Filip, geboren 1930 in Ostrava (damals Ostrau), studierte Literatur und Journalistik und begann frühzeitig zu schreiben. 1959 trat er der Kommunistischen Partei bei, wurde aber schon ein Jahr später wegen kritischer Äußerungen wieder ausgeschlossen und sogar zu einer Haftstrafe verurteilt. Damit waren literarische Veröffentlichungen ausgeschlossen; er schrieb dennoch weiter und arbeitete als Bergarbeiter, Lkw-Fahrer und auf dem Bau. Einige seiner Manuskripte gelangten in den Westen, über diesen Umweg erlangte er künstlerisches Ansehen, was ihm 1967 sogar einen Literaturpreis seiner Heimatstadt Ostrava einbrachte. 1968, als sich die strikten Verhältnisse lockerten, arbeitete er als Verlagslektor und setzte sich für die Politik Dubčeks ein.
Dann ein Déjà-vu: Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings wurde er verhaftet, angeklagt, zu 18 Monaten Haft verurteilt. Danach verdiente er sein Geld als Möbelmonteur, Kraftfahrer und auf dem Bau – wie gehabt. Bis er und seine Familie 1974 ausgebürgert wurden; seitdem lebte und schrieb er in Westdeutschland.
Ende der 90er Jahre holte ihn die Vergangenheit ein: Vorwürfe der Zusammenarbeit mit dem tschechoslowakischen Geheimdienst wurden gegen ihn erhoben. Filip räumte ein, im Gefängnis unter Druck gesetzt worden zu sein, beharrte aber darauf, niemandem geschadet zu haben. Sein Sohn Pavel, ein Mathematikprofessor, nahm sich das Leben, nachdem die Anschuldigungen bekannt geworden waren.
Den Autor des Briefs konnten wir zu seinen Erinnerungen nicht mehr befragen. Ota Filip ist am 2. März dieses Jahres in Garmisch-Partenkirchen gestorben.
Von Wolfgang Hübner
Die Lage ist jetzt so ernst geworden, dass ich die Pflicht fühle, Ihnen noch einen Brief zu schreiben und Sie auf Tatsachen aufmerksam zu machen, die leider in der Deutschen Demokratischen Republik verschwiegen wurden. In den Tagen, da ich in der Deutschen Demokratischen Republik gewesen bin, habe ich mit zahlreichen Deutschen Diskussionen geführt und mich überzeugt, dass der deutsche Arbeiter aus Leipzig, Beamte aus Berlin, Lehrer aus Dessau, Fischer aus Stralsund, junge Soldaten der Volksarmee aus Potsdam, die Ziele der hysterischen Kampagne, die Sie gegen uns führen, durchschaut haben.
Es geht Ihnen um nichts anderes, als den Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik einzureden, dass die Probleme, die wir gelöst haben und noch zu lösen haben, in der Deutschen Demokratischen Republik gar nicht existieren. Als wenn sich in der Deutschen Demokratischen Republik gar keine Kaste von Funktionären gebildet hätte, die sich berufen fühlt, die arbeitenden Menschen herumzuschieben, sie geistig und auch physisch zu vergewaltigen - so wie es bei uns vor dem Januar 1968 der Fall war. Ich habe den Eindruck mit nach Hause gebracht, dass bei Ihnen die Grundrechte des Menschen nicht respektiert werden, dass sie im Namen des Sozialismus nur schweigen müssen und in einer Atmosphäre von Angst und kollektiver Verdächtigung leben. Das kennen wir gut, so haben wir auch gelebt.
Leider habe ich in Ihrer Zeitung nicht eine einzige seriöse Information über die Vorgänge bei uns gelesen. Sie haben die Antwort unseres ZK der Kommunistischen Partei auf das Schreiben der »Fünf« ganz verschwiegen, sie haben zwar sehr viel Krawall über den Artikel »2000 Worte« gemacht, doch keiner in der DDR weiß, was eigentlich in diesem Artikel steht. Das sind alles Methoden, die wir zu gut kennen aus der Zeit des Stalinismus, der bei Ihnen noch immer blüht.
Nicht ein Wort war in Ihrer Zeitung über die geistige Haltung unseres Volkes zu lesen, das ganz einig unsere Kommunistische Partei unterstützt. Auch ich, obzwar ich kein Kommunist bin, fühle es als meine patriotische Pflicht, die KP in diesen Tagen zu unterstützen. Und so denken wir alle ehrlichen Nichtkommunisten.
Nein, bei uns gibt es kein Zurück zum Kapitalismus und auch kein Zurück in die Zeiten des groben Dogmatismus, der unser Volk fast in den Abgrund der Verzweiflung und des geistigen Zerfalls brachte. Unsere Fragen und Probleme in der Beziehung zur Deutschen Bundesrepublik sind nicht gelöst worden, und wir würden es auch nicht dulden, dass sich die Deutsche Bundesrepublik in unsere inneren Angelegenheiten einmischt. So werden wir es auch nicht dulden, dass sich die Deutsche Demokratische Republik berufen fühlen könnte, hysterische Entscheidungen über innere Verhältnisse in unserem Land zu verkünden. Ganz klare und deutliche Drohungen von der Seite der Deutschen Demokratischen Republik können wir in dieser Zeit nur als einen tragischen Irrtum klassifizieren. Unsere Freundschaft zum Volke in der Deutschen Demokratischen Republik bleibt erhalten.
Unser Volk hat niemals in der modernen Geschichte ein anderes Volk um die Freiheit beraubt, eigene Probleme selbst lösen zu können, wir haben uns niemals zu Aggressionen verführen lassen, wir standen immer an der Seite der Grundprinzipien der Freiheit der Völker - und haben dafür sehr viele Opfer gebracht - auch unsere Freiheit. Unsere demokratischen Traditionen lehren uns, dass jeder Mensch und jedes Volk selbst über das Schicksal entscheiden muss und darf, denn das sind die größten und verbindenden Pflichten und Rechte.
Sollte sich jemand dazu verführen lassen und unseren Prozess zur wahren sozialistischen Demokratie mit Gewalt unterbrechen, dann bedenkt, ich bitte Sie darum, die Folgen, die eine solche, dem Völkerrecht nicht entsprechende Tat haben könnte. Die Idee des Sozialismus würde in diesem Falle für Jahrzehnte, wenn nicht für immer, in einen grausamen, eisigen Schatten zurückgeworfen und in den Augen der ganzen Welt diskreditiert. Mit Gewalt, mit grobem Propagandaschrei, das uns von der deutschen Seite zu sehr an die tragische Epoche unserer Geschichte erinnert, ist gar nichts zu erreichen! Für Sie, so wie auch für uns. Wir stehen vor Tagen, in denen wir alles verlieren können - verlieren wir alles, dann gewinnt die Deutsche Demokratische Republik nichts. Sie wird nur eine große Mitschuld tragen müssen, deren historische Auswirkungen in diesen Tagen noch nicht zu übersehen sind.
Ich kann, vor dem Antlitz meines Volkes, dem ich ergeben bin, erklären: Wir werden von dem Weg, den wir angetreten haben, nicht abweichen. Dazu fühlen wir zu sehr die tiefen, demokratischen und fortschrittlichen Traditionen in uns verwachsen. Wir sind auch keine Agenten des Imperialismus.
Wir wollen in unserem Land die gesunde Atmosphäre weiter entwickeln, denn in ihr haben wir alle die Zuversicht, dass wir niemals mehr geistig und auch als Volk vergewaltigt werden.
Wir wollen auch, gemeinsam mit der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei und mit allen ehrlichen Tschechen und Slowaken, beweisen, dass wir genug Geisteskraft und demokratische Disziplin haben, um unseren Prozess, dessen historische Größe schon jetzt ganz klar hervortritt, bis zum Ziel bringen. Mit Taten, die unserem Volk Glück und Lebensfreude bringen werden, werden wir auch Ihnen beweisen, wie sehr Sie sich jetzt irren und verblenden lassen. Und wie sehr Sie die Grundprinzipien des Marxismus-Leninismus verletzen, indem Sie sich bereit erklärt haben, die inneren Angelegenheiten eines sozialistischen Volkes mit Gewalt zu bestimmen.
Ich glaube fest, dass Sie Mut und journalistische Ehrlichkeit finden werden und diesen Brief, der auch in unseren Zeitungen erscheint, veröffentlichen. Ich benutze die Gelegenheit und lade einen Mitarbeiter der Redaktion des »Neuen Deutschlands« nach Ostrava zu mir ein. Er soll sich überzeugen, dass es nicht wir sind, die die Ideen des Fortschrittes, des Sozialismus verletzen. Er soll sich auch davon überzeugen, dass unsere Kommunistische Partei jeden Tag ihre Position festigt und sich das Vertrauen des ganzen Volkes in sie vertieft.
Hochachtungsvoll, Ota Filip
Schriftsteller und Verlagslektor
Ostrava, ČSSR
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.