Bücher wie Brötchen
Friedrich Schorlemmer: »WORTmacht und MACHTworte - Eine Eloge auf die Leselust«
Wozu lesen. »Lesen, statt zu leben. Lesen, um zu leben. Lesen, um nicht leben zu müssen. Lesen, um mit dem Leben fertig zu werden.« Schreibt Friedrich Schorlemmer. Vielleicht ist Literatur der einzig gültige Ausdruck für den schwierigen Versuch in abnehmender Verlogenheit. Nicht mehr. Aber mehr ist gar nicht möglich. Den Rest, um Hölderlin zu korrigieren, stiften leider nicht die Dichter. Da muss mehr her. Aber mit Lesen kann man schon mal anfangen. Etwas mit sich selber. Schorlemmer ist ein bekennender Leser: Er steht vor einem Buch wie vor einem Brunnen. Durst. Rundum die Wüste. Deren Ränder beginnen herznah in dir selbst.
»WORTmacht und MACHTworte« heißt dieses Buch. Zehn Essays: eine »Eloge auf die Leselust«. Literatur ist zu loben, weil sie unsere menschliche Lage erzählt - und zwar indirekt. Denn: Unsere ungeheure Lage wäre nicht wirklich auszudrücken. Das Erzählen ist der durch Erfahrung trainierte Schein. Was wir aufschreiben (und lesen), bricht die Unmittelbarkeit unserer Misere von Schuld und Sterbenmüssen. Trost, jedenfalls für die Zeit des Schreibens. Für die Zeit des Lesens. Für die Zeit eines Gebets wohl auch. Schorlemmer: »Warte nicht auf bessre Zeiten. Jetzt ist deine Zeit.«
Der Wittenberger Theologe sieht in den Büchern Heinrich Bölls einen Widerstand gegen »das vitale Gebaren der Erinnerungslosen«. Er ruft Christa Wolf auf, gerade jetzt, »da es nicht mehr nur um den ›geteilten Himmel‹ geht, sondern um den Himmel, der zu zerreißen droht, und um die Erde, die zum Schlund wird«. Und er erläutert im Text über Hermann Hesse jenes Missverständnis, das in der Gleichsetzung von Kommunismus und Bergpredigt liegt: Religion geht nicht in Moral auf.
Den größten Raum des Buches bildet eine Art Autobiografie entlang des Lesens in der DDR. Das Titelgebende: »Wortmacht und Machtworte«. Da ist der Kohlefahrer, der im Herbst 1989 bei Schorlemmer klingelt und eine Postkarte überreicht: »Wir danken allen, die uns unsere Sprache zurückgegeben haben.« Da nennen Stasispitzel Schorlemmers Literaturabende als Studentenpfarrer »feindlich-negativ«. Da erinnert er an die »Taubenfederliteratur« zu Zeiten der Hochrüstung. Da spricht Klaus Höpcke in Wittenberg sehr konfliktbewusst über Literatur und Gesellschaft, »das hatte ich ausgerechnet von diesem Herrn nicht erwartet«. Man spannte damals auf neue Bücher »wie auf Brötchen am Sonnabendmorgen«. Literatur war »so billig wie Brot und so reichlich wie Brot«. Bettina Wegner, Reiner Kunze, Wolf Biermann. Was von der DDR bleibt? »Aufgeschlagene Bücher« - bis heute!
Schorlemmer schreibt als einer, der sich leidenschaftlich in Problemräumen aufhält: Warum herrschte damals, als es auf Widerworte ankam, so eine Distanz zwischen Linksintellektuellen der DDR und den Kirchenleuten? »Wir waren für sie vielleicht die Schwarzen.« Da gibt es 1992 ein rückblickendes Gespräch mit Hermann Kant. Kant: »Ich fordere Sie hier richtiggehend auf, gucken Sie sich meine Bücher an; ich sage noch einmal, das ist die Hauptsache bei einem Schriftsteller.« Schorlemmer bohrend: »Ich gucke mir auch Ihre Opfer an.« Unversöhnlichkeit. Kants Spiel mit der Zugeknöpftheit, das Verweigern von öffentlicher Buße und Einkehr. Aber dann wird es Schorlemmer sein, der im »nd« Irmtraud Gutschkes klug und offen zum Schriftsteller hinfühlenden Gesprächsband mit Kant rezensieren wird, ein Buch, »das auch einen Kritiker Kants nicht unberührt lassen kann«. Das ist er, der ganze Schorlemmer: Lust an Deutlichkeit, doch in der schmerzenden Glut des Zorns ein nicht angreifbarer Kern von Zuwendung, von Verständnis, von Würdegewähr jenseits aller Canossa-Burgen. Diese Haltung muss einer erst mal haben - und durchhalten. Versöhnung - in der Wahrheit. Ein Hauptgedanke beim Prediger.
Die Essays wissen, dass Wirkungen, die Literatur erzielt, nicht messbar sind. Deshalb ist es müßig, über Wirkungen zu reden. Aber Bücher sagen ja wenigstens, welche Wirkungen sie erzeugen wollen. Und wie sich der Autor schreibend selber verändert. Der Leser auch. Dass ein Schriftsteller außer sich selbst noch einen anderen Menschen verändert, ist nicht beweisbar. Aber seine eigene Veränderung ist in seiner Produktion ablesbar. Jeder Dichter ist somit unverkennbar tendenziell. Und damit ist es auch sein Beitrag zur Güteverbreitung, zur Weltberuhigung. Solche Ziele sind für Schorlemmer - gerade heute - wichtiger als jene um sich greifende Vorstellung, wir seien nur ein sinnloser Zufall aus Eiweiß.
So richtet sich das Buch gegen Schriftsteller, die lauter Narben produzieren, ohne noch die Wunde zu brauchen. Schorlemmer mag Existenzvirtuosen nicht. Er liest durchdrungen. Er geht davon aus, dass die fälligen Entblößungen am Menschen doch allesamt längst vorgenommen sind. Unser Bewusstsein ist bereits eine einzige Sammelstelle von blamierten Ideen. Wir sind also enttäuscht genug - und wie hilflos steht Ironie, diese kritische Grazie aus vergangener, erzählbarer Zeit, nun vor den harten Schründen unserer zeitgenössischen Paradoxe. In solch kalten, nackten Verhältnissen Charakter zu bleiben, das gelingt nur dem, der nicht noch weiter entblößen und hohe Werte nur immer weiter lächerlich machen will, dem, der sich mit Schrift und Geist anschickt, die Demaskierten zu schonen, dem Nackten passende Kleider anzulegen, die Trümmer mühsam zu untersuchen auf Wiederverwendung. Schorlemmers Baustelle: Aufbauhilfe für Seelen.
Der Autor beschreibt die Folgen von vierzig Jahren »Fürsorgestaat«, verweist auf ein »tiefsitzendes Bevaterungsbedürfnis« des einstigen DDR-Volkes, und er skizziert den heutigen linken »Gerechtigkeitspopulismus« der Linkspartei, der freilich einen verstehbaren Anlass hat im Widerstand »gegen den allfälligen Gruppenegoismus unserer Zwei-Drittel-Gesellschaft«. Erich Loests Roman »Es geht seinen Gang« wird betrachtet: Darin habe sich der Antiheld entschieden, »unten zu bleiben, weil er sich oben gewissenlos verhalten müsste«.
Dieser Essay ist der vielleicht schonungsloseste: Die Rede geht von »Zuchtmeistern der roten Diktatur«, von »Spitzensport und Spitzelsport«, vom »Nasenring einer Vormundschaftspartei«, vom Staat »der Hundestaffeln« - Schorlemmer ist, wie gesagt, grundsätzlich ein Gutwilliger, ein Gutmeinender, ein Guthandelnder, aber er ist auch einer, der weiß: Nach bestimmten Erfahrungen kann es Erlösung nicht geben. Man kann bittere Erfahrung nicht abgeben, sie nicht weggeben, man kann sie aber weitergeben. Weitergeben, indem man sie als Besitz verteidigt. Und schon wächst ein Schatten nach. »Gott lässt dem Menschen die Wahl, ob er seinen guten oder seinen bösen Engeln folgen will.« Heißt es im Text über die Tagebücher von Max Frisch. Ein lakonisch großer Satz über die Frage, ob man sich am Feuer der Freiheit wärmen oder verbrennen will.
Das gute Buch, so Schorlemmer, braucht Empfehlung. Das ist nicht identisch mit Bestsellerlisten. Er singt ein schönes Lied auf die Gilde der Buchhändler. Und als Pfarrer rückt er naturgemäß den Selbstauftrag jedes Dichters in unmittelbare Nähe zum Religiösen. Gott ist schließlich die Zusammenfassung all dessen, was dem ohnmächtigen, schwachen Menschen fehlt. Just dies ist der Fundus auch aller Literatur, die vom Fleisch ausgeht. »Die Worte der Weisen sind wie Stacheln und wie eingeschlagene Nägel.«
Friedrich Schorlemmer: WORTmacht und MACHTworte - eine Eloge auf die Leselust. Radius Verlag Stuttgart. 144 S., geb.,14 €.
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