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Neugierig auf Menschen
Zum Tode der großen Reporterin Christina Matte, die mit ihren Texten über Jahrzehnte diese Zeitung prägte
Am Freitag ist sie in einem Berliner Hospiz gestorben. Sie war gefasst, als sie zu Wochenbeginn dorthin ging. Dass der Krebs sich nicht ewig aufhalten lassen würde, sie wusste es im Grunde schon, als die Erkrankung 2015 mit voller Macht ausgebrochen war. Sie hat sich dagegengestemmt, und immer mal wieder gab es Phasen einer Erholung. Aber Christina Matte war nicht der Mensch, der sich Illusionen macht. Aus einer realistischen Sicht schöpfte sie ihre Stärke. Geh zur Mammographie, riet sie einer Kollegin. Den Rat sollte man weitergeben.
Ich erinnere mich, wie sie 1982 in die Redaktion »Neues Deutschland« kam: eine zarte, eine schöne Frau, dabei durchaus mit einem gewissen Ernst, eine, die etwas leisten wollte. Sie begann, in der Abteilung Volksbildung zu arbeiten. Vorher hatte sie an der Karl-Marx-Universität Leipzig studiert und promoviert und beim Fernsehen Erfahrungen gesammelt.
Im ND-Ressort »Wochenendbeilage« kam Christina Matte dann bei ihrer eigentlichen Berufung an - der literarischen Reportage. Dafür hatte sie für Jahre allein »den Hut auf«, nachdem ihr Arbeitsgebiet in die Verantwortung des Ressorts Feuilleton übergegangen war. Ein paar Meter von mir entfernt saß sie an ihrem Schreibtisch, redigierte Texte, stellte tagesaktuelle Kulturmeldungen zusammen und überlegte unablässig, welche Themen sie für ihre Reportageseiten »ausgraben« könnte.
War eine Idee geboren, sprach sie begeistert davon. Verabredungen waren zu treffen, schwierig mitunter. Es gibt ja durchaus Leute, die mit Medien nichts zu tun haben wollen. Reportagereisen waren zu planen, die sie meist zusammen mit dem Fotografen Joachim Fieguth unternahm und von denen sie voller Eindrücke zurückkam. Die mussten nun zu Papier gebracht werden. Nicht irgendwie, sondern in einer eigenen, ausgefeilten Sprache. »Lies mal«, sagte sie mitunter. »Überzeugt es dich so?«
Wenn ich heute - so traurig, wie ich bin - über Christina Mattes Talent sprechen will, so fällt mir zu ihrer Sprachkunst noch eine Haltung ein, die nicht nur etwas mit Journalismus zu tun hat, sondern mit einer grundlegenden Beziehung zum Leben: Neugier auf Menschen in ihren Beziehungen zur Welt.
Die Leser liebten sie. Wirklich, sie war eine Besondere. Durchblättert man im Archiv dieser Zeitung ihre Texte, wird man von Staunen erfasst. Ein ganzes Buch hätte daraus werden können. In Berlin-Prenzlauer Berg war sie in einem Missionsstützpunkt der Heilsarmee, sie fuhr nach Wünsdorf, als die Sowjetarmee dort die Zelte abbrach. Auf dem Ettersberg in Weimar sprach sie mit jungen Europäern, die dort ein Jahr lang Erfahrungen sammeln wollten. In Boitzenburg untersuchte sie ein Problem, das es vielerorts gab und bis heute gibt: Landärzte werden knapp. Untersuchungen sozialer Befindlichkeiten anhand von konkreten Schicksalen - das ist ihre Stärke gewesen, die nur auszuspielen ist, wenn man selber sozialen Durchblick hat.
Unvergesslich ihre Porträts von Menschen - Prominenten wie der Schauspielerin Carmen-Maja Antoni und bis dahin Unbekannten, die ihr von ihren Problemen erzählten. Menschen, die etwas bewegen wollten und dabei aneckten, die schwere Erlebnisse verarbeiten mussten, und auch solche, die einsam waren und deprimiert. Texte, mit Herzblut geschrieben. Christina Matte versteckte sich nicht. In den Beschreibungen fremden Lebens hört man ihre Stimme, spürt man ihre Erfahrung, ihre Haltung zum Leben.
In unserer Mitte ist sie immer eine Nachdenkliche, Kritische gewesen. Von dem, was man Zeitgeist nennt, hat sie sich nie überwältigen lassen. In Erinnerung bleiben wird ihre innere Stärke. Wenn wir telefonierten - zu selten, wie ich die ganze Zeit wusste -, klagte sie nie. Dass es ihr momentan »nicht so gut« gehe, musste man für sich mit »schlecht« übersetzen. Auf ihrem Tablet las sie, was wir produzierten, und hielt mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg. Zum Pressefest des »nd« im Juni hat sie sich aufgerafft und ist noch einmal in die Redaktion gekommen. Das war ihr Abschied.
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