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Von Palumbien nach Berlin
«Spirou», eine der populärsten und ambivalentesten Figuren des frankobelgischen Comics, wird 80 Jahre alt
Um es gleich freiheraus zu sagen: Das Fortbestehen Ihrer Marke und deren kommerzieller Wert hängen von Ihrer Fähigkeit ab, ihr treu zu bleiben. Ihre Persönlichkeit muss sich weiterentwickeln, aber authentisch bleiben«, bekommt die Comicfigur Spirou in der anlässlich ihres 75. Geburtstags im Jahr 2013 veröffentlichten Story »Geheimnisse der Tiefe« von einem Vertreter der Marketingabteilung des Verlags erklärt. »Kurz gesagt, Herr Spirou, vergessen Sie Ihren Anzug nicht! Sie haben keine Wahl … Steht in Ihrem Vertrag.« Nicht viele Comicreihen bekennen sich so offen zu den Marktzwängen, denen sie unterworfen sind, vor allem keine mit der Reichweite von »Spirou und Fantasio«, einer Comicserie, die in diesem Jahr ihren 80. Geburtstag feiert. Der »Anzug«, von dem der Marketingchef spricht, ist der rote Hotelpagendress, den Spirou seit seinem ersten Auftritt 1938 trägt bzw. zu tragen verpflichtet ist, obwohl er dem Job des Pagen nur für ein paar Monate nachging.
Damals wurde eine Identifikationsfigur für die jugendlichen Leser des neuen belgischen Magazins »Le Journal de Spirou« gesucht, woraufhin der französische Zeichner Rob-Vel (Robert Velter) die Figur des Pagen Spirou entwickelte. »Spirou« kann »Eichhörnchen«, aber auch »Schelm« bedeuten. Auf dem Cover der Erstausgabe vom 21. April 1938 wurde der Held zum Leben erweckt: Rob-Vel verewigte sich selbst vor einer Leinwand stehend, auf die er Spirou, den vom Manager des »Hotel Moustic« gewünschten »einzigartigen Pagen«, gezeichnet hat. Ein »Lebenswasser« lässt ihn zum Menschen werden und die Leinwand für mittlerweile über 80 Comic-Alben verlassen. Schon 1938 wurde darauf verwiesen, dass Spirou formbar und anpassungsfähig ist, ein gezeichnetes Produkt vieler Väter.
Während der Page unter der Feder von Rob-Vel und seines Nachfolgers Jijé (Joseph Gillain) gemeinsam mit dem melancholischen Eichhörnchen Pips und dem hektischen Reporter Fantasio nur kleine humoristische Abenteuer erleben durfte, führte André Franquin ab 1946 die Reihe hin zu der Form, die bis heute Bestand hat: komplexe Abenteuer auf Albumlänge, zahlreiche weitere immer wiederkehrende Nebenfiguren und Gegenspieler. Da Franquin in den Jahren 1946 bis 1968 die Comicreihe inhaltlich wie auch ästhetisch prägte, gilt er heute als ihr wahrer Schöpfer. Er setzte dem damaligen europäischen Trend der Ligne Claire eine andere Ästhetik entgegen; statt klarer Linien und ruhiger Farben dominieren Bewegungen sowie detail- und actionreiche Bilder die Comics. In einem der von ihm gegebenen Interviews reflektiert Franquin über die Figur des Spirou und erklärt, »dass ein Held wie er gar keine Persönlichkeit besitzt. Er hat keine Persönlichkeit, weil er da anstelle des Lesers ist. Deshalb musste er ›leer‹ sein. Er war immer diese kleine Marionettenfigur, mehr oder weniger aktiv, aber ohne Persönlichkeit.«
Ganz ohne Persönlichkeit ist Spirou im Laufe der Jahrzehnte jedoch nicht geblieben, seinem Charakter wurden immer wieder neue Aspekte hinzugefügt - nach Franquin haben zahlreiche weitere Zeichner und Szenaristen die Serie weitergeführt, derzeit wird die Hauptserie vom Duo Vehlmann & Yoann verantwortet. Daneben konnten sich Zeichner wie Lewis Trondheim oder Émile Bravo in zahlreichen Sonderbänden ausprobieren. Erstmals war zum Jubiläum ein deutscher Zeichner, der Berliner Künstler Flix, eingeladen, einen solchen Band zu gestalten: »Spirou in Berlin« spielt kurz vor dem Mauerfall in Ostberlin und zeigt den Kampf der Helden gegen bürokratische Strukturen und Stasi-Mitarbeiter, nebenbei bewahren sie die Welt ein weiteres Mal vor dem Untergang.
Aber Franquin hat die Serie auch in anderer Hinsicht geprägt: In den von ihm gezeichneten Alben keimte zum ersten Mal die Ahnung auf, dass mit der Welt irgendetwas gehörig schief läuft. Die realen Depressionen des Zeichners, der auch aufgrund dieses Leidens die Serie 1968 abgeben musste, sind in den jeweiligen Subtext der Comics eingesickert. Die Kommentare des Eichhörnchen Pips zur Weltlage wurden zunehmend sarkastischer, und auch Spirou entwickelte eine gewisse Melancholie, »die sich als Vernünftigkeit tarnt«, wie Georg Seeßlen es einmal in einer Hommage an den Pagen formuliert hat. Die Reife, die Schieflage der Welt in ihrer Komplexität zu erfassen, hatten Spirou und Fantasio in den 50er und 60er Jahren noch nicht, wenn sie gegen lateinamerikanische Diktaturen antraten, sich mitten im Kalten Krieg hinter dem Eisernen Vorhang wiederfanden, martialische Denkmäler oder sogar ganze Armeen zu Fall brachten. Sie blieben gefangen in den Erwartungen an Abenteuergeschichten für ein jugendliches Publikum, zwischen den Bildern aber begann es zu brodeln, Verdrängtes brach immer wieder in die Geschichten ein und musste irgendwie im Zaum gehalten werden - etwa die Comicfigur Marsupilami, ein fiktives Tier, das 1952 seinen ersten Auftritt in den Comics hatte: Von den beiden Helden der Geschichte wurde es gewaltsam aus seinem natürlichen Lebensraum, dem südamerikanischen »Palumbien«, nach Europa gebracht. Zwar finden die drei einen Weg, sich einander anzunähern und schließlich zu Freunden zu werden, doch Belgien war damals noch Kolonialmacht und diese Reise der Freunde in Regionen ehemaliger europäischer Kolonien war kein Einzelfall. Gesprochen werden durfte im Format des Jugendcomics jedoch nicht über diese Thematik, daher vermutlich auch die angestaute Wut des Marsupilami auf Spirou, Fantasio und die gesamte Zivilisation: Nachdem es 1968 gemeinsam mit André Franquin aus der Serie verschwunden war - der Zeichner nahm bei seinem Ausscheiden die Urheberrechte mit -, tauchte es erst 2016, nach 46 Jahren Abwesenheit, in »Der Zorn des Marsupilamis« wieder auf.
Seit dem Beginn des neuen Jahrtausends sind diese verdrängten Aspekte der eigenen Geschichte endgültig an die Oberfläche gekommen; im Gegensatz zu den Helden der Comicreihe, die das Schicksal teilen, niemals älter werden zu können, ist die Serie selbst erwachsen geworden. In den 80er Jahren hatte es nicht danach ausgesehen, einige glücklose Zeichner entwarfen erwartbare Abenteuer, während gleichzeitig eine Albumreihe um den »kleinen Spirou«, in der von Schulstreichen und anderen Kindheitserlebnissen des späteren Serienhelden erzählt wurde, den Erfolg der Mutterserie bei weitem übertraf. Dass diese Kindheit der Figur Spirou eine Lüge ist, eine Illusion, die ein elternlos unter deutscher Besatzung aufgewachsener Junge niemals so hätte erleben können, zeigten dann wenige Jahre später Zeichner, die sich selbstkritisch mit dem anderen großen Tabu der »Spirou«-Reihe beschäftigten: der Tatsache, dass die von Eskapismus und leichtem Humor geprägten Comics der Ära Rob-Vel und Jijé unter den Augen der deutschen Besatzer erschienen, von der politischen Realität ablenkten und zuweilen sogar antisemitische Züge trugen. Verlogen wirkt angesichts dessen der Kampf der Helden gegen Nachkriegsdespoten. Auf diese Ambivalenz deuteten Alben wie »Porträt eines Helden als junger Tor« (2008) von Émile Bravo oder »Operation Fledermaus« (2009) von Yann und Olivier Schwartz. So ist die Serie an ihren Ursprung zurückgekehrt, in die Zeit der Erfindung des Pagen durch Rob-Vel, die ihn, anders als in der »Kleiner Spirou«-Reihe behauptet, zunächst in ein katholisches Waisenhaus voll sexuell übergriffiger Priester führt und schließlich als Page ins »Hotel Moustic«. Dort lernt er eine junge polnische Jüdin im Widerstand kennen, deren Verschwinden am Ende des Bandes »Porträt eines Helden als junger Tor« ihn dazu bewegt, die Pagenuniform im Andenken an sie niemals ablegen zu wollen. Er wandelt sich im Lauf des Albumgeschehens vom unpolitischen jugendlichen Tor zu jenem Spirou, der im Folgeband »Operation Fledermaus« - ebenso wie Fantasio - im Widerstand aktiv ist und dabei sogar Nazis tötet.
Spirou ist etwas gelungen, das die wenigsten Comiccharaktere schaffen: Er hat, per Spurensuche im Verschütteten, in den Abgründen in seiner Biografie, seine Anfänge als formbares, charakterloses Produkt hinter sich gelassen. Nicht schlecht für einen 80-Jährigen.
Flix: Spirou in Berlin. Carlsen-Verlag, 64 S., 16 €.
Emile Bravo: Spirou & Fantasio Spezial 8: Porträt eines Helden als junger Tor. Carlsen-Verlag, 76 S., 12 €.
Im Oktober erscheint:
Emile Bravo: Spirou & Fantasio Spezial 26: Schlechter Start in neue Zeiten. Carlsen-Verlag, 14 €.
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