Wasserquelle nur noch für Nestlé

Die Bewohner der Region Vittel wehren sich gegen einen Verwaltungsbeschluss

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 4 Min.

An die Glanzzeiten als vornehmer Kurort in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis weit in die 1930er Jahre erinnern in der lothringischen Vogesen-Kleinstadt Vittel nur noch längst stillgelegte und teils schon verfallene Hotels, Casinos und Trinkhallen im Jugendstil. »Fonte revivisco« - durch die Quelle zu neuem Leben - lautete das Motto des Ortes, dessen Name immer noch international bekannt ist: als Marke eines Mineralwassers, das jährlich in 850 Millionen Plastik- oder Glasflaschen abgefüllt den Ort verlässt.

1992 hat der Schweizer Lebensmittelkonzern Nestlé das vor Jahrzehnten vergebene Recht gekauft, das zwischen Muschelkalkschichten in 300 Meter Tiefe lagernde Grundwasser mit seiner Mischung von Spurenelementen flaschenweise zu vermarkten. Das lohnt sich, Mineralwasser lässt sich bis zu 160 Mal teurer als Leitungswasser verkaufen. Doch der Wasserspiegel unter Vittel sinkt seit 1970 jährlich um 30 Zentimeter und hat so in den vergangenen 40 Jahren bereits zehn Meter eingebüßt. Die 750 Millionen Kubikmeter, die Nestlé jährlich fördert, sind deutlich mehr als das, was als Regenwasser durch die Erde sickert und sieben Jahre braucht, um in der Tiefe den Mineralwasserspiegel aufzufüllen. Auf diese Weise reicht das Wasser noch bis 2050.

Deshalb entnimmt Nestlé dem Grundwasser inzwischen bereits ein Viertel weniger als die erlaubte Menge von einer Million Kubikmeter pro Jahr. Der Konzern hat aber eine radikale Lösung parat. »Die 5000 Einwohner von Vittel sollen künftig ihr Wasser nicht mehr aus der Quelle unter ihren Füßen bekommen, sondern Wasser aus Dörfern in 20 bis 30 Kilometer Entfernung«, empört sich der in Vittel lebende pensionierte Arzt Bernard Schmitt. Und Odile Agrafile von der Umweltkommission des Regionalrats Grand Est ist überzeugt: »Letztlich werden die Bürger diese Pipeline, die 20 Millionen Euro kosten soll, mit ihren Steuergelder bezahlen müssen, und dies, damit ihr Wasser weiter durch Nestlé verkauft wird. Das ist widersinnig, denn Wasser ist ein Gemeingut.«

Dass die Wasserkommission des Stadtrats von Vittel die Umstellung bereits im Juli bereits beschlossen hat, empfinden Umweltvereine und viele Bürger als Skandal, zumal die Kommissionsvorsitzende mit einem ehemaligen Nestlé-Manager verheiratet ist und die Staatsanwaltschaft gegen sie wegen des Verdachts von Interessenkollision und Lobbyarbeit für den Konzern ermittelt.

Unter dem Druck des öffentlichen Aufsehens wurde die Entscheidung nun ausgesetzt und bis zu einer öffentlichen Debatte und erneuten Abstimmung im September vertagt. Bürgermeister Franck Perry von der rechtskonservativen Partei der Republikaner weist den Verdacht, die Stadt habe sich Nestlé ausgeliefert, weit von sich. Er muss allerdings einräumen, dass Nestlé jährlich fünf Millionen Euro als lokale »Mineralwassersteuer« zahlt, die 27 Prozent des Stadtbudgets ausmachen und dass der Konzern gerne nachdrücklich auf die Arbeitsplätze am Ort verweist. Tatsächlich jedoch wurden Wasserabfüllung und Logistik in den zurückliegenden Jahren weitgehend automatisiert und so die Zahl der Beschäftigten auf 900 halbiert. In seiner Öffentlichkeitsarbeit verweist der Konzernzweig Nestlé Waters vor allem auf das, was seit mehr als 25 Jahren für die Nachhaltigkeit und die Qualität des Wassers getan wurde. So hat der Konzern über seine Tochtergesellschaft Agrivair rund um Vittel 3000 Hektar Felder und Wiesen, Obstplantagen und Wälder aufgekauft. Zusammen mit den Quellegebieten der Mineralwassermarken Contrex, Perrier und San Pellegrino, ebenfalls im Nestlé-Besitz, sind es insgesamt 10 000 Hektar. Die Nutzflächen dieses privaten Wasserschutzgebiets werden an Bauern und Schäfer verpachtet, die per Vertrag auf Pestizide und Nitrate verzichten müssen. Doch um beispielsweise ihre Schafe und Kühe zu tränken, dürfen die Pächter kein Wasser vor Ort schöpfen, sondern müssen es aus den umliegenden Dörfern transportieren. Das Wasser unter Vittel ist Nestlé dafür zu schade.

In Frankreich selbst geht der Konsum von Mineralwasser rapide zurück. Auf der Suche nach Sparpotenzial haben die Franzosen den Wasserhahn wiederentdeckt. Während vor 20 Jahren 80 Prozent der Haushalte Flaschenwasser bevorzugten, hält sich der Konsum mit dem Trinkwasser aus dem Hahn heute annähernd die Waage. Denn die Umwelt- und Verbraucherverbände sowie die Stadtverwaltungen sorgen immer wirksamer dafür, dass die Qualität des kommunalen Trinkwassers bekannter wird, zumal dieses sogar schärfer kontrolliert wird und so beispielsweise weniger Pestizidspuren enthalten darf als in Flaschen abgefülltes Wasser.

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