Kritische Solidarität statt skeptischer Distanz

Ohne Kooperation zwischen LINKE und Sammlungsbewegung sinkt die Aussicht auf einen Politikwechsel

  • Michael Brie und Dieter Klein
  • Lesedauer: 8 Min.

Die neoliberale Politik ist in der Krise, aber Gewinner sind in vielen Ländern die Rechten. Auch in Deutschland. Selbst wenn sie nicht regieren, so beherrschen sie doch die Agenda. Dass dies nicht so sein muss, beweisen die Gegenbewegungen in Griechenland oder Portugal, Spanien oder Großbritannien. Auch die Kampagne von Bernie Sanders zeigte: Eine andere Politik ist möglich! Wieso dann nicht in Deutschland?

Die Blockaden sind manifest: Erstens ist es der Linken jeder Fasson nicht gelungen, ein breites solidarisches Mitte-Unten-Bündnis zu gestalten und die soziale Frage mit der Frage einer libertären toleranten offenen Orientierung glaubwürdig zu verbinden. Schlimmer noch: Die libertären Bewegungen sind unter die Vorherrschaft des neoliberalen Projekts der Globalisierung geraten und weitgehend vereinnahmt worden. Es wurde Klassenpolitik von oben betrieben, der keine überzeugende neue Klassenpolitik von unten entgegengesetzt wurde. Die Spaltungen nach Geschlecht, Ethnie, Qualifikation, Staatsbürgerschaft oder Alter wurden nicht solidarisch bearbeitet.

Die Autoren

Michael Brie, Jahrgang 1954, war Professor für Sozialphilosophie an der Berliner Humboldt Universität und arbeitet seit langem für die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Dieter Klein, Jahrgang 1931, ist Ökonom und Politikwissenschaftler, hatte einen Lehrstuhl an der Humboldt Universität inne und gehört dem Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung an.

Zweitens ist das linke Feld gespalten, und bei Wahlen haben SPD, Grüne und LINKE bundesweit keine 40 Prozent mehr. Dies steht im Widerspruch zur latenten Mehrheit in der Bevölkerung, wenn es um zentrale linke Themen der sozialen Gerechtigkeit, der Rente, der Umverteilung von oben nach unten und hin zum Öffentlichen sowie in der Frage von Frieden, Ökologie und solidarischer Entwicklungshilfe geht. Ohne umfassende gesellschaftliche Bündnisse und die Perspektive einer linken Regierung in Deutschland aber wird diese Spaltung nicht überwunden, werden Mehrheiten nicht gewonnen.

DIE LINKE darf für sich beanspruchen, für eine progressive Gesellschaftsalternative zu wirken. Sie liegt als mitregierende Partei in Berlin in der Gunst der Wählerinnen und Wähler nach jüngsten Umfragen auf dem ersten Platz unter den Parteien. Sie hat in der Kampagne gegen Pflegenotstand zusammen mit ver.di und den Beschäftigten erste Erfolge erreicht. Sie war beteiligt an dem Aufbegehren für bessere Personalausstattung und Bezahlung in den Kitas und ist unterwegs für eine wahrnehmbare Mieterbewegung. Aber per Saldo hat sie die Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nach rechts nicht aufhalten können.

Ein bloßes Weiter-so ist für DIE LINKE keine Option. Dies wissen die Beteiligten. Bei Bundestagswahlen stagniert die Partei, und die Umbauprozesse, die sie selbst herbeiführen kann, brauchen viel Zeit und ihre Erfolge sind begrenzt. Das Ziel von 2003 war, zuerst im Bündnis von PDS und Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit eine starke bundesdeutsche Partei aufbauen, die dann zu einer linken Regierung hinführt. Von diesem Ziel sind wir 15 Jahre später weiter entfernt als damals.

In dieser Situation erfolgt der Anstoß für die Bewegung »Aufstehen«. Der Widerhall ist ungewöhnlich groß. Ein Gelegenheitsfenster öffnet sich. Vermutlich wie stets in der Geschichte nur für kurze Zeit. Dieser kurze Moment kann verpasst oder entschlossen genutzt werden. Die etablierten Parteien fürchten jede Bewegung von unten. Ihr Credo lautet, dass es keine Alternative gebe. Oder nur Schönheitsreparaturen am neoliberalen Finanzmarktkapitalismus. Oder autoritäre Herrschaft.

Es gibt in der Führung der LINKEN mit gutem Grund viele Vorbehalte: Gab es in der Diskussion zu den Geflüchteten nicht auch Untertöne, die national zentriert wirken? Sind Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine nicht öfters auch spaltend aufgetreten, haben nicht das Gespräch gesucht? Muss man sich nicht zuerst um die Partei DIE LINKE kümmern und das Sammeln in ihr? Tut diese Partei nicht ohnehin das ihr Mögliche und entwickelt sich selbst zu einer verbindenden Partei? Die Liste der Vorbehalte ließe sich verlängern. Die Sammlungsbewegung scheint derart viele Geburtsfehler zu haben, dass ihr Überleben chancenlos scheint; und mancher würde gerne aktiv dazu beitragen, dass es eine Totgeburt wird.

Es gibt auch dezidiert schlechte Argumente. So schreibt Benjamin Hoff, Staatssekretär für die LINKE in Thüringen: »Wir gegen die Politik da oben - das ist ein Trend in der politischen Debatte. Auch die Sammlungsbewegung bedient das. Das ist antiaufklärerisch.« Dann wäre »Occupy Wall Street« antiaufklärerisch gewesen, war doch ihre Losung: Wir sind die 99 Prozent. Eines zumindest wissen aber die im Unten der Gesellschaft - wenn auch anders als Benjamin Hoff nicht aus den vorliegenden sozialwissenschaftlichen Studien: Die Chancen, das eine Meinung sich politisch durchsetzt, sind oben besonders hoch und für die unten dagegen ganz besonders schlecht. Die westlichen Demokratien haben einen Klassencharakter, über den aufzuklären ist.

Bernd Riexinger schreibt hier im »neuen deutschland« mit Recht, dass »Aufrufe von Prominenten und Medienpräsenz alleine« nicht ausreichen. Aber, so sei eingewandt, sie können nützlich sein, oder? Und natürlich kann ein »gesellschaftlicher Aufbruch ... nicht als von oben initiierte Bewegung entstehen«. Aber wieso kann dies nicht doch zu einer Initialzündung neben anderen werden, die auf fruchtbaren Boden fällt? Wir brauchen Projekte der Selbstermächtigung von unten, aber eben zugleich auch erfolgreiche Wahlen und Hegemonie in den Medien sowie die Perspektive einer modernen linken Regierung, um die Vorherrschaft des Neoliberalismus zu brechen und die Entwicklung nach rechts zu stoppen. Und ist es wirklich ausgemacht, dass die sich gerade erst konstituierende Sammlungsbewegung wirklich nichts anderes ist als ein »Projekt der Wiederbelebung der sozialen Marktwirtschaft und der Sozialdemokratie des 20. Jahrhunderts«? Ernst Bloch schrieb: »Kein Ding ließe sich wunschgemäß umarbeiten, wenn die Welt geschlossen, voll fixer, gar vollendeter Tatsachen wäre. Statt ihrer gibt es lediglich Prozesse … Das Wirkliche ist der Prozess; dieser ist die weit verzweigte Vermittlung zwischen Gegenwart, unerledigter Vergangenheit und vor allem: möglicher Zukunft. Ja, alles Wirkliche geht an seiner prozessualen Front über ins Mögliche.«

Bei aller Skepsis und bei all den Vorbehalten wird sehr Wichtiges übersehen: Es gibt einen drängenden Bedarf, den keine politische oder soziale Organisation bisher erfüllt, auch nicht die Partei DIE LINKE. Der Schulz-Hype hat dies deutlich gemacht, die Wählerwanderung nach rechts und die massive Wahlenthaltung tun es auch. Und es gibt die Bereitschaft von Menschen, die bisher getrennt agierten, sich zusammenzutun. Symbolisch stehen dafür die Namen derer, die bisher bekannt sind. Neben den schon Genannten Wolfgang Streeck und Antje Vollmer, Rudolf Dressler und Ludger Volmer. Hier werden Menschen, die öffentlich bekannt sind, als politische »Unternehmer« tätig, beginnen etwas Neues, mit sehr offenem Ausgang. Dies bedeutet aber auch: Wenn sich dann wirklich viele Tausende einbringen, wenn es gelingt, gemeinsam in offener Diskussion solidarische Vorstellungen, eine gemeinsame linke Tagesordnung zu entwickeln, dann, aber auch nur dann, ist viel geleistet. Wie bei ähnlichen solcher Sammlungsprojekte in anderen europäischen Ländern ist es von Bedeutung, wie demokratisch und partizipativ sie gestaltet werden. Die genannten Geburtsfehler können überwunden werden, auch wenn dies keineswegs sicher ist. Dazu aber bedarf es kritischer Solidarität und Hilfe statt lähmender Vorbehalte.

Die Vorstellung, dass zwar ein linkes Sammeln richtig ist, aber für die LINKE selbst nicht relevant, kann nicht überzeugen. Es bedarf einer Doppelstrategie: Wirken für die eigene Stärkung und für linke Sammlung insgesamt, durchaus in verschiedenen, aber auch in gemeinsamen Projekten. Wie soll sonst die kritische Masse für einen linken Richtungswechsel entstehen? Ein Dritter Pol quer zum Weiter-so und gegen die Neue Rechte wird gebraucht und kann nicht alleine durch die LINKE geschaffen werden. Wenn, wie Bernd Riexinger unseres Erachtens richtig schreibt, die Zeit nie »reifer für die Grundidee der pluralen und geeinten Linken« war als jetzt, wieso dann vor allem Vorbehalte und Abgrenzung für ein Projekt der Sammlung im Findungsprozess? Wir wissen nicht, wie es möglich sein wird, alle notwendigen Bedingungen für einen Richtungswechsel zu schaffen. Wir wissen nur, dass die bisherigen Wege dazu nicht ausreichen. Wie dichtete Bertolt Brecht: »Falsch mag handeln/ Der sich mit zu wenigen Gründen begnügt./ Aber untätig bleibt in der Gefahr,/ Der zu viele braucht.«

Wir legen den Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitikern der Partei DIE LINKE deshalb nahe: Erklärt eure Bedenken, doch entschließt euch, trotz aller möglichen Risiken den Weg von Kooperation zu gehen. Ohne Unwägbarkeiten und Risiken und ohne solidarisches Engagement ist kein neuer Aufbruch zu haben. Eine lebendige Bewegung ist die Chance, durch eigene Erfahrungen und mit einer neuen politischen Kultur des Diskurses zu tragfähigen Arbeitsstandpunkten zu kommen. Nur in einer solchen Kooperation können gemeinsame Lernprozesse befördert werden, kann die Korrektur unzureichender Ausgangspositionen erfolgen, kann für Toleranz in den dafür erforderlichen Diskussionen gewirkt werden, können Bündnisse im Interesse gemeinsamer Ziele entstehen. Anders gesagt: Ohne solche Kooperation wird beiden Seiten geschadet, werden sich die Bedingungen für einen Richtungswechsel der Politik noch weiter verschlechtern.

Wenn es gelingt, ein kritisch-solidarisches Verhältnis zwischen Partei DIE LINKE und Sammlungsbewegung herzustellen, dann könnte sich erweisen, dass daraus auch für die Partei DIE LINKE Chancen erwachsen, selbst zu einer gestärkten, zu einer LINKEN PLUS zu werden, die viel mehr Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik für ihre Politik gewinnt und deren Stimme in der EU Gehör verschafft. Auch die Öffnung der eigenen Wahllisten sollte in Erwägung gezogen werden, wenn sich dafür eine Chance ergibt. Umgekehrt muss alles getan werden, damit die Sammlungsbewegung nicht zu einem Projekt der Spaltung und Schwächung der gesellschaftlichen Linken und der Partei DIE LINKE wird. Die Verantwortung dafür liegt auf beiden Seiten.

Eines ist klar: Zumindest gegenwärtig werden die Führung von SPD und Grünen sich verweigern. Die LINKE dagegen hätte ein Alleinstellungsmerkmal als die Partei, die erstens die größte Schnittmenge an inhaltlichen Positionen mit der Sammlungsbewegung haben wird und die zweitens als einzige sich offen für eine politisch relevante Kooperation zeigt. Niemand weiß heute, welche Kräfte eine Sammlungsbewegung freisetzen kann - für einen dezidiert linken Richtungswechsel der Politik, dem strategischen Ziel der Partei DIE LINKE, das sie alleine nicht realisieren kann. Dies ist der Grund, dem Experiment solidarisch wie kritisch-helfend zur Seite zu stehen. Und zwar jetzt!

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