»Keine Chaoten«, sondern »organisierte Rechtsextremisten«

Roth: Gesellschaft muss Gesicht zeigen / Bund Deutscher Kriminalbeamter: Rassismus und Antisemitismus teilweise »salonfähig« geworden / Rechter Übergriff in Wismar

  • Lesedauer: 5 Min.

Berlin. Nach den Ausschreitungen in Chemnitz und der Veröffentlichung eines Haftbefehls zum Tötungsdelikt in der sächsischen Stadt werden die Forderungen nach einem entschiedeneren Handeln von Politik und Strafverfolgungsbehörden lauter. Die Politik müsse »spürbar« agieren, forderte der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) im »Handelsblatt« am Donnerstagsausgabe. Der Deutsche Richterbund wertete die Veröffentlichung des Haftbefehls als »neue Dimension«. Unterdessen wurde ein neuer rassistischer Übergriff bekannt.

Die Grünen-Politikerin Claudia Roth wandte sich gegen eine Verharmlosung der rechtsextremen Übergriffe in Chemnitz. »Auf den Straßen von Chemnitz äußern nicht besorgte Bürger ihre Ängste, sondern es werden Menschen gejagt«, sagte Roth der Deutschen Presse-Agentur. Es handelten »keine Chaoten«, sondern »organisierte Rechtsextremisten«. Wer das relativiere, verharmlose offenen Hass und Rassismus. »Wer den Hitlergruß zeigt, wer pogromartig gegen alles hetzt, was nicht dem eigenen völkischen Rassenwahn entspricht, ist nicht Opfer, sondern Täter«, betonte Roth. Die Gesellschaft müsse Gesicht zeigen gegen Rassisten.

Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) hatte gesagt, zu Demonstration seien Chaoten und Hooligans aus anderen Bundesländern angereist. Roths Kritik richtete sich aber auch gegen FDP-Vize Wolfgang Kubicki, der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihrer Flüchtlingspolitik eine Mitschuld am Zustandekommen der Übergriffe gegeben hatte, und an den Berliner FDP-Fraktionschef Sebastian Czaja. Dieser hatte auf Twitter geschrieben: »Antifaschisten sind auch Faschisten.« Dazu erklärte er, Widerstand gegen Rechts müsse »entschieden liberal« sein, nicht halbherzig oder radikal.

Rassismus und Antisemitismus »salonfähig«

Es sei inzwischen unübersehbar, dass Rassismus und Antisemitismus in Teilen der Gesellschaft »salonfähig« seien, sagte BDK-Vize Sebastian Fiedler dem »Handelsblatt«. Dies bilde den Nährboden für Rechtsextremismus und politisch motivierte Kriminalität.

Rechtsradikale Straftäter verspürten »von Teilen der Bevölkerung eine Form der Rückendeckung und rechtfertigen dadurch ihre Straftaten vor sich selbst«, sagte Fiedler. Die Politik müsse daher »spürbar« agieren. »Knallhartes, rechtsstaatliches Vorgehen gegen rechte Kriminelle ist dabei ebenso Pflichtprogramm wie Prävention in einer völlig neuen Dimension«, sagte Fiedler.

Der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Oliver Malchow, verwies erneut auf die Personalknappheit bei der Polizei. »Es gibt Räume, wo das Recht nicht durchgesetzt wird, weil es ein Vollzugsdefizit gibt«, sagte Malchow dem »Handelsblatt«. Die Ausschreitungen in Chemnitz sollten »ein Alarmsignal für die Politik sein, mit aller Konsequenz zusätzliche Mittel zur Verfügung zu stellen«.

Der Leiter des Berliner Büros der Deutschen Bischofskonferenz, Prälat Karl Jüsten, sagte den »Stuttgarter Nachrichten« und der »Stuttgarter Zeitung« vom Donnerstag, nicht allein die Politik sei gefragt, aktiv gegen rechtsradikale Übergriffe aktiv Stellung zu beziehen, sondern jeder Einzelne in der Gesellschaft.

Rechtsextremismus zur »gefährlichen Normalität« herangereift

Auch in der Wirtschaft wächst die Sorge angesichts der jüngsten Vorfälle in Chemnitz: Die Geschäftsführerin der in Sachsen ansässigen Uhren-Firma Nomos, Judith Borowski, sagte dem »Handelsblatt«, der Rechtsextremismus sei zur »gefährlichen Normalität« herangereift. »Sachsen ist stark braun gesprenkelt.« Das seien »nicht nur ein paar Ewiggestrige und Neonazis. Die Fremdenfeindlichkeit, der Hass auf die etablierte Politik, die Enttäuschung über die Demokratie - das alles findet hier mittlerweile einen breiten Konsens.«

Der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbunds, Sven Rebehn, nannte derweil die Veröffentlichung des Haftbefehls gegen einen der Tatverdächtigen im Fall Chemnitz »unverantwortlich«. Der Vorfall sei geeignet, das Vertrauen in den Rechtsstaat und seine Institutionen zu beschädigen, sagte er der »Neuen Osnabrücker Zeitung« vom Donnerstag. Die Staatsanwaltschaft müsse jetzt mit Nachdruck untersuchen, wer den Haftbefehl veröffentlicht habe.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International forderte das sächsische Innenministerium sowie das Bundesinnenministerium auf, in Chemnitz, in Sachsen, aber auch dem ganzen Bundesgebiet entschlossen gegen rassistische Drohungen und Gewalttaten vorzugehen. »Es muss für alle Menschen möglich sein, ohne Angst am öffentlichen Leben und an friedlichen Protesten teilzunehmen«, erklärte der Generalsekretär von Amnesty in Deutschland, Markus Beeko, am Mittwoch.

Freiheit und Sicherheit würden gefährdet, wenn wie in Chemnitz am Sonntag und am Montagabend nicht ausreichend Sicherheitskräfte vor Ort seien, »um Drohungen und Angriffe gewaltbereiter Gruppen zu verhindern«. Für alle weiteren angekündigten Demonstrationen in Chemnitz forderte Amnesty International die zuständigen Ministerien auf, »endlich zuverlässig für die Bereitstellung ausreichender Polizeikräfte zu sorgen«.

UN-Menschenrechtskommissar Zeid Ra'ad al-Hussein zeigte sich »schockiert« über die rechtsextremen Ausschreitungen. Er halte es für »fundamental wichtig, dass politisch Verantwortliche in ganz Europa das verurteilen«, sagte Zeid am Mittwoch in Genf. Der oder diejenigen, die den 35-Jährigen getötet hätten, müssten bestraft werden. Aber was »in den letzten Tagen in Sachsen geschehen ist, ist wirklich schockierend«. Er halte es für »beunruhigend«, dass in vielen europäischen Ländern »das gleiche Verbrechen« nicht die gleiche Aufmerksamkeit erhalte - je nachdem, ob es von einem »Nicht-Migranten« oder einem Migranten begangen wurde, fügte Zeid hinzu.

Bei einer Demonstration der rechten Bewegung Pro Chemnitz war es am Montagabend zu massiven Übergriffen von Neonazis auf Gegendemonstranten und Journalisten mit zahlreichen Verletzten gekommen. Rund 6000 Menschen, darunter zahlreiche gewaltbereite Rechtsradikale und Hooligans, waren dem Aufruf von Pro Chemnitz gefolgt. Ihnen standen etwa 1500 Gegendemonstranten gegenüber.

Bereits am Sonntag hatte es in Chemnitz Ausschreitungen und rassistische Stimmungsmache gegeben, nachdem bei einem Stadtfest ein 35-Jähriger getötet worden war.

Migrant in Wismar zusammengeschlagen

Aus Mecklenburg-Vorpommern wurde am Donnerstag ein rassistischen Angriff gemeldet: In Wismar schlugen am Mittwochabend »drei Deutsch sprechende Tatverdächtige« auf einen 20-jährigen Migranten ein, wie die Polizei mitteilte. Das Opfer wurde zudem ausländerfeindlich beschimpft und erlitt durch den Angriff eine Nasenbeinfraktur, Hämatome im Gesicht und am Oberkörper. Die Täter flüchteten.

In Kaiserslautern fand am Mittwochabend laut Polizei eine Versammlung mit dem Motto »Abschieben statt integrieren - Merkel muss weg« statt. Daran nahmen demnach rund 50 Menschen teil, ihnen stellten sich rund 300 Gegendemonstranten entgegen. Absperrmaßnahmen der Polizei hätten Auseinandersetzungen verhindert. Agenturen/nd

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.