Chaim Stern (Düsseldorf 1938)

Unbekannte Bekannte

  • Walter Kaufmann
  • Lesedauer: 2 Min.

Draußen wiegten sich die Blätter im Oktoberwind, glitten an den Synagogenmauern vorbei auf den Schulhof. Im schwindenden Sonnenlicht blieb uns bald nur der goldene Davidstern an der Stirnwand des Klassenzimmers deutlich. Ich sah mich um und sah nur Lücken - wir waren achtzehn gewesen, in dieser Klasse der jüdischen Schule, jetzt fehlten sieben. Miriam war fort, war wie die anderen nach Polen verschleppt worden. Noch am Abend zuvor hatte ich sie betend im Zimmer hinter der Schusterwerkstatt ihres Vaters angetroffen. Sie hatte den Finger an die Lippen gelegt und meine Fragen erstickt, auch später hatte sie mir nicht antworten wollen: »Frag nicht, frag nicht … wir müssen weg und du bleibst hier.«

Esther und Chanele Bialik waren weg, auch Saul und Jizchak Kuszinski, und Ben Schlomo Weiß. Nur Chaim Stern hatte ihnen entkommen können, war mit dem Fahrrad in Richtung Holland geflohen. Im zerfledderten Reklam-Büchlein von Goethes »Faust«, das er mir noch zugesteckt hatte, stand geschrieben: »Chasak chaver - bleib stark. Nächstes Jahr in Jerusalem!« Ich hatte ihn auf dem Fahrrad gesehen, das dunkle Haar im Wind, hatte ihn anhalten sehen und im Schein der Taschenlampe die Richtung prüfen, dann war er eingetaucht in die Nacht. Ob auch unser Lehrer, der Herr Levi, jetzt an ihn dachte - nur er und ich wussten von Chaims Flucht. Herr Levi wirkte verstört, der Unterricht stockte, schien ihm keinen Sinn mehr zu machen. »Lasst uns beten!«, sagte er. Wir beteten: »Schma Yisroel …«

Draußen, die Sonne sank hinter die Dächer. An den Wänden die Fotos vom goldenen Jerusalem, von Tel Aviv am Meer, von den Hügeln Haifas - sie lagen jetzt ganz im Schatten. Unser Klassenzimmer wirkte düster und leer. Ich hörte Lehrer Levi sagen: »Rückt zusammen, alle miteinander!«

Das taten wir. Ich achtete nicht darauf, wer sich da neben mich setzte. Mir fehlte Chaim …

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.