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Jede Nanosekunde zählt
Martin Leidenfrost hat sich angeschaut, wo Daten der Finanzspekulation durchflitzten
Im Hochsommer bewegte ich mich auf der Luftlinie zwischen der Londoner und der Frankfurter Börse. Darauf hatte mich Martin Ehrenhauser gebracht, ein ehemaliger EU-Abgeordneter und 2014 EU-Listenführer der österreichischen Linken. Sein neues Buch «Geldroboter» erzählt von automatisierten Hochfrequenzhändlern. Zur Veranschaulichung: Vor zehn Jahren schickte ein Börsenhändler pro Tag 70 Order auf einen Markt, heute feuert ein Hochfrequenzhändler eine Million Order auf fünf verschiedene Märkte. Diese Geldroboter profitieren von Krisen; wie der «Flash Crash» von 2013 zeigte, erzeugen sie aber auch Krisen.
Der Trumpf der Geldroboter ist ihre Geschwindigkeit. Um der «Matching Engine» so nah wie möglich zu kommen, mieten sie sich direkt in den Großservern der Börsen ein. Glasfaserkabel sind längst zu langsam, darum errichten sie Mikrowellennetze zwischen den Börsen. Sie ersteigern dafür NATO-Sendemasten und bauen eigene Türme.
Am Ärmelkanal ist das Wettrennen besonders hart. In Richborough, das perfekt zwischen London und Frankfurt liegt, planten zwei Geldroboter höhere Türme als den Eiffelturm. Mit 324 und 305 Metern hätten sie die Erdkrümmung überwunden. Jede Millisekunde hätten sie sich eine Million Pfund kosten lassen. Eine Millisekunde ist heute viel, die Zeitvorsprünge werden oft in Nanosekunden gemessen, in Milliardsteln. Die Kreisräte von Richborough misstrauten aber den unaufrichtigen Bankern und stimmten gegen die Türme. Auf der Luftlinie Frankfurt-London liegt auch Belgien. Ich überzeugte mich, dass kaum ein Belgier von diesen Dingen weiß.
Ich fuhr an die belgische Küste, die man sich als eine achtstöckige Häuserfront von 65 Kilometern vorstellen muss; so haben maximal viele zahlende Belgier Meerblick. Am Rand von Oostduinkerke stand ein ungewöhnlich massiver Wohnblock. Twenty One« war so groß, dass er in fünf Sektoren unterteilt war, und er wich nur 500 Meter von der Ideallinie ab. Wie in einem Agentenkrimi hatten die Geldroboter »Vigilant« und »New Line Networks« um die Dachplätze von Sektor 1 und 4 gestritten - und um den Ausschluss des Konkurrenten. Obwohl die Sanddüne den Seeblick versperrte, waren auch im Erdgeschoss Wohnungen. Ich klopfte an eine Glastür, ein nettes Antwerpener Seniorenpaar ließ mich ein. Das Studio war winzig, aus dem geschlossenen Plastikschrank neben mir erklang das Schnarchen der Enkel. Der alte Besitzer hatte schon seine Schulferien in Oostduinkerke verbracht. Es sei teuer geworden, »zu viele Leute haben zu viel Geld«.
Auch diesen Antwerpenern hatte niemand von Hochfrequenzhandel erzählt, auf der Info-Veranstaltung für die 50 Wohnungsbesitzer von Sektor 1 hatten »seriös wirkende irische Techniker« nur von »Datentransfer« gesprochen. »Aus dem obersten Stock fragten welche, ob sich das auf die Gesundheit auswirkt, und kriegten zur Antwort: Nein. Alle 50 haben dafür gestimmt.« Und nun das: New Line Networks sagte den Masten ohne Begründung ab. Der Antwerpener rätselte: Steckte der Brexit dahinter, ein Glasfaserkabel oder eine Intrige aus Sektor 4? Er klagte: »Finanziell bin ich enttäuscht. Die Hausbetriebskosten steigen, mit den 40 000 Euro von NLN wären sie von 60 000 auf 20 000 gesunken.«
Ich fuhr ins öde westflämische Kaff Egem, zum höchsten Turm Belgiens. Stahlseile, in ein Dutzend Betonblöcke gegossen, hielten den 305-Meter-Sender. Ich wollte mit Anwohnern reden, und da war ein weißes Landhaus und eine Leuchtschrift »Bar open«. Komischerweise standen nackte weibliche Schaufensterpuppen davor, eine mit Dreizack und grünem verschmierten Blut. Und komischerweise stand da: »SM-Meisterinnen«. Ich trat ein. Niemand, weitere Domina-Puppen, und es war schummrig. Die flämische Wirtin schickte mir »ein Mädchen« an den Tisch. Das Mädchen war karibische Französin und hatte einen schattigen Blick. Bevor ich Reißaus nahm, erzählte sie mir, dass Bezahlsex im »Le Ciel Flamand« teuer war, das Auspeitschen selbst aber kostenlos. Die Prostituierte wohnte phasenweise im Sado-Maso-Bordell, umso mehr versetzten sie meine Erzählungen in Staunen: »Mon Dieu, das Ding ist der höchste Turm Belgiens?« Dass über ihrem Kopf Daten der Finanzspekulation durchflitzten, konnte sie fast nicht glauben. Ich ließ daher weg, dass die Geldroboter in den USA bereits per Laser kommunizieren und dass sie von Drohnen und Neutrinos träumen. Dann wären sie endlich richtig schnell.
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