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  • Politik
  • Geschichte der Arbeiterbewegung

Grenzübertritt mit Hindernissen

Zu den Bedingungen und Herausforderungen transnationaler Solidarität unter Arbeitenden

  • David Mayer
  • Lesedauer: 8 Min.

Grenzüberschreitende Kämpfe und transnationale Verbindungen von Arbeitenden sind kein neues Phänomen. Im Gegenteil, »internationale Solidarität« oder »Internationalismus« galten historisch oft als zentraler Anspruch der Arbeiterbewegungen und der Linken im Allgemeinen. Dieser Anspruch stand stets in einem komplizierten Verhältnis zu den nationalen Bezugsräumen des politischen Handelns. Ein Blick auf die historischen Zyklen dieses Wechselverhältnisses kann helfen, die Bedingungen, Formen und Schwierigkeiten grenzüberschreitender Zusammenarbeit von Arbeitenden zu verstehen.

Die wechselseitige Unterstützung gegen die strukturelle Vormacht des Kapitals und seiner EignerInnen ist die Grundlage gewerkschaftlicher Solidarität. Freilich handelt es sich dabei, einer berühmten Unterscheidung des Soziologen Émile Durkheim folgend, um eine »mechanische Solidarität«, also eine Solidarität, die auf der offenkundigen Gleichheit von Lebenslage und Interessen der Betroffenen beruht. Auch bei der internationalen Solidarität kann eine solche Gleichheit gegeben sein. Ein Beispiel sind jene hochqualifizierten SpezialistInnen, die mit gleichen Fähigkeiten in ähnlich arbeitenden Betrieben derzeit überall dringend gebraucht werden. Meistens jedoch besteht aufgrund räumlicher Distanz sowie unterschiedlicher historischer, ökonomischer, politischer und kultureller Bedingungen ein mehr oder weniger hoher Grad von Ungleichheit zwischen jenen, die durch internationale Solidarität verbunden werden sollen. Solch ein solidarisches Handeln zwischen Ungleichen bezeichnete Durkheim als »organische Solidarität«. Sie ist wesentlich schwieriger zu erreichen als die »mechanische«.

Der Text

David Mayer ist Historiker, Lehrbeauftragter an der Universität Wien und Fellow am International Institute of Social History (Amsterdam). Sein Text wurde für »nd« gekürzt; eine ausführlichere Version mit Literaturangaben finden Sie hier.

Der Text dient auch als Hintergrundmaterial zur Diskussionsveranstaltung »Ahoi Arbeitskämpfe – Internationale Arbeitsrechte auf hoher See« der Rosa Luxemburg-Stiftung und des Berliner Entwicklungspolitischen Ratschlags (BER) am 12. September um 18 Uhr im Berlin Global Village, Am Sudhaus 2. Es diskutieren Heide Gerstenberger (Wirtschaftswissenschaftlerin), Hamani Amadou (Inspektor der Internationalen Transportarbeiter-Föderation in Rostock) und Jörn Boewe (Rosa-Luxemburg-Stiftung).
Mehr Informationen hier.

Zugleich stellt sich die Frage, wer bei einer solidarischen Praxis mitgemeint ist. In kritischen Interpretationen zur Geschichte der Arbeiterbewegungen wird darauf hingewiesen, in welchem Maße sie sich gerade in ihren erfolgreichsten Zeiten auf bestimmte Sektoren der Arbeitenden beschränkte, meistens weiße Männer in formalen Beschäftigungsverhältnissen in den Ländern des Nordens. Informelle oder prekäre Beschäftigungsverhältnisse, halb- oder unfreie Formen der Arbeit, unbezahlte Arbeit (insbesondere Hausarbeit), Frauenarbeit oder Arbeitsmigranten wurden dagegen kaum oder gar nicht in gewerkschaftlicher Solidarität einbezogen. Dies betrifft die aktuellen Möglichkeiten transnationaler Solidarität ganz direkt, denn die heutigen transnationalen Güterketten oder Produktionsnetzwerke sind häufig von einer Kombination ganz unterschiedlicher Welten der Arbeit gekennzeichnet.

Grenzüberschreitenden Interventionen kamen in der Geschichte der Arbeiterbewegung jeweils unterschiedliche Bedeutungen zu. Abhängig von Zeit und Ort trat internationale Solidarität in manchen Momenten in kleine Nischen zurück, in anderen definierte sie die Stoßrichtung der Gesamtbewegung in hohem Maße. Folgende Phasen lassen sich nennen: Erstens die »frühen Formen grenzüberschreitender Solidarität bis 1890«, zweitens der »Internationalismus unter der Vorherrschaft des Nationalstaates« (1890er Jahre bis 1970er Jahre) und drittens »die Krise und Defensive der Arbeit, Globalisierungswelle und Notwendigkeit eines neuen Internationalismus« (seit den 1970er Jahren).

Seit wann gibt es eine »Arbeiterklasse«, die sich für die Wahrung ihrer Interessen zu gemeinsamem Handeln zusammenschließt? Die Historiker Peter Linebaugh und Marcus Rediker beschreiben in ihrer Studie »Die vielköpfige Hydra« für das 16. bis 18. Jahrhundert ein vielgestaltiges frühes Proletariat im nordatlantischen Raum, das sich aus Seeleuten, Soldaten, SklavInnen, Hafenarbeitern, gebundenen Kontraktarbeitern und Prostituierten zusammensetzte und sich auf Schiffen und in Häfen begegnete. Gegen den expandierenden Kapitalismus, der auf Plantagenwirtschaft sowie den genannten atlantischen Schiffsverbindungen fußte und die Arbeitenden zum guten Teil mit roher Gewalt in unfreie Verhältnisse zwang, schlossen sich die Betroffenen über die Grenzen von Sprache, Herkunft, Geschlecht und Hautfarbe hinweg immer wieder zusammen und entwickelten gemeinsame Formen des Protests.

Auch in den frühen Gewerkschaften und Arbeiterorganisationen Mitte des 19. Jahrhunderts war es selbstverständlich, grenzüberschreitende Kontakte zu knüpfen. Von der parlamentarischen Vertretung ausgeschlossen, von den Herrschenden der Nationalstaaten als nicht würdig erachtet, aus hochqualifizierten und häufig sehr mobilen Facharbeitermilieus entstanden, sahen diese Organisationen eine direkte Interessensübereinstimmung mit ihren Kollegen andernorts. Die Aktivitäten der I. Internationale (1864 - 1872) schlossen dementsprechend die Übermittlung von Streikgeldern oder das Behindern von Streikbrechern ein.

Erst in den 1890er Jahren begann sich in vielen Ländern jenes Verhältnis zwischen Gewerkschaften, Arbeiterparteien und Nationalstaat auszubilden, das im 20. Jahrhundert prägend werden sollte und dem eine Reihe von sozialen und arbeitsrechtlichen Errungenschaften zu verdanken sind. Freilich war auch in dieser Phase nicht alles auf den nationalen Rahmen beschränkt. Unter dem Eindruck der so genannten ersten Welle der Globalisierung vor dem Ersten Weltkrieg gründeten sich eine Reihe internationale Gewerkschaftssekretariate von Fach- und Berufsgruppen.

Besondere Herausforderungen bestanden überdies in jenen staatlichen Gebilden, die verschiedene ethnische und nationale Gruppen vereinten. Neben dem Zarenreich und der k. u. k. Monarchie galt dies auch für Einwanderungsländer wie die USA oder Argentinien. Ein wichtiges Themenfeld für die Arbeiterbewegung bildete in den Industrienationen bis in die 1960er Jahre die Frage der kolonialen Besitzungen. An dieser lassen sich die ambivalenten Wirkungen der Nationalisierung der Arbeiterbewegung seit den 1890er Jahren ablesen. Einerseits äußerten sie wiederholt Kritik an der mit der kolonialen Herrschaft einhergehenden gewaltvollen Unterdrückung. Andererseits wurde die Tatsache der Kolonialherrschaft durch das eigene Mutterland kaum hinterfragt. Erst die Oktoberrevolution von 1917 und die Entstehung der Kommunistischen Internationale leiteten ein langsames Umdenken ein.

Ab den 1940er Jahren etablierte sich jenes Arrangement, das es den Arbeiterbewegungen führender kapitalistischer Länder erlaubte, zu zentralen politischen Akteurinnen zu werden. Auch wenn diese stark institutionalisierten »labour-friendly regimes« (Silver/Arrighi) ganz unterschiedlich ausgeprägt waren, der Nationalstaat erschien nun als die wichtigste Handlungsebene. Dies bedeutete jedoch nicht das Verschwinden grenzüberschreitender Faktoren und Praktiken, auch wenn diese nun einen stärker politischen Charakter hatten, wie etwa die ideologische und geopolitische Auseinandersetzung zwischen Ost und West, die Dekolonisierungswelle und ihre Echos in den Metropolen, das Ringen um verschiedene Wege und Formen des »Sozialismus«, die Kämpfe gegen neo-imperiale Interventionen, die Herausbildung großer, internationaler Verbände, die die Arbeitenden zu repräsentieren behaupteten. Zu letzteren gehören die »westlich« orientierte »International Confederation of Free Trade Unions« und die seit 1948 stark kommunistisch geprägte »World Federation of Trade Unions.«

Das Ende des historisch singulären Nachkriegsaufschwungs Anfang der 1970er brachte nicht nur eine Zunahme sozialer Auseinandersetzungen mit sich, sondern setzte auch jene Internationalisierung des Kapitals in Gang, die sich in den 1990er Jahren zur »Globalisierung« steigerte. In diese Zeit fallen auch erste Versuche, grenzüberschreitende betriebsrätliche Gremien innerhalb von Konzernen aufzubauen. Anfang der 1980er Jahre wurde die Krise des Kapitalismus mit einer radikalen Abkehr vom »labour-friendly international regime« in eine Krise der Industriearbeiter und ihrer Organisationen transformiert, die bis heute nicht überwunden ist. Diese Geschichte in groben Zügen kann jedoch darüber hinwegtäuschen, welch bemerkenswerte Beispiele politischer Solidarität »von unten« es in jenen Jahrzehnten immer wieder gab. Oft waren betriebliche oder gewerkschaftliche Basisstrukturen in diese Aktivitäten involviert und das meist vergessene »proletarische 1968« war in hohem Maße von der Übernahme von Praktiken und Ideen andernorts bestimmt. In den 1980er Jahren bildete sich darüber hinaus in Ländern wie Brasilien, Südafrika und Südkorea mit dem »Social Movement Unionism« ein Gewerkschaftstypus heraus, der stärker als Basisbewegung organisiert ist und die Nähe zu anderen sozialen Bewegungen sucht.

Gewerkschaften und andere Gruppen zur Wahrung von Arbeiterinteressen haben seit den 1990er Jahren in unterschiedlicher Weise auf die Herausforderungen der »Globalisierung« und die wachsende Schwächung ihrer strategischen Macht reagiert. Dabei stand oft die Verteidigung der verbleibenden Zonen des früheren stabilen Arrangements an erster Stelle - häufig um den Preis eines fortgesetzten Ausschlusses all jener, die nicht in den geschützten Sphären arbeiten, wie etwa MigrantInnen, Frauen oder prekär Beschäftigte. Auch Standortbündnisse in Allianz mit Staat und Unternehmen als Antwort auf die verallgemeinerte Standortkonkurrenz gehören hierzu.

Zugleich kam es mancherorts zu einer (Teil-)Übernahme jener »Organizing«- und »Campaigning«-Modelle, die vor allem von US-Gewerkschaften in Reaktion auf ihre Marginalisierung entwickelt worden waren. Diese versuchen wenig organisierte Gruppen von ArbeiterInnen anzusprechen. Zuletzt entstanden neue und erweiterte grenzüberschreitende gewerkschaftliche Zusammenschlüsse. So wandelten sich die ehemaligen Internationalen Berufssekretariate zu »Global Union Federations«. 2012 wurde die »industriALL Global Union« als Zusammenschluss der jeweiligen internationalen Föderationen der Metall-, Chemie- und Textilarbeiter gegründet. Bereits im Jahr 2000 entstand unter dem Namen »UNI Global Union« eine globale Föderation der Dienstleistungsarbeiter.

Auch wenn bis heute kein neues Zeitalter des »transnationalen Internationalismus« in den Welten der Arbeit angebrochen ist - was angesichts der voranschreitenden Transnationalisierung des Kapitals und wachsender internationaler Migrationsbewegungen eine schmerzliche Anomalie darstellt - so haben sich in den vergangenen 30 Jahren viele grenzüberschreitende Organisierungsformen und Kämpfe der Arbeitenden entwickelt. Die bereits Anfang der 1970er Jahre gebildeten Konzernbetriebsräte haben dabei die einstmals in sie gesetzten Hoffnungen eher enttäuscht als erfüllt. Das liegt nicht nur an ihrer Neigung zum Unternehmenskorporatismus, sondern auch an den Veränderungen der Unternehmensstrukturen, die sich in vielfach gestaffelte Netzwerke von Produktion, Investition und Spekulation verwandelt haben. Und Streiks innerhalb eines grenzüberschreitend agierenden Unternehmens sind bis heute ein seltenes Ereignis. Dennoch: Auf den »Euro-Strike« 1997 an mehreren Renault-Standorten folgten Mobilisierungen bei anderen Autoherstellern, und in jüngerer Zeit sind auch die MitarbeiterInnen von Amazon mit solch grenzüberschreitenden Kampfmaßnahmen hervorgetreten.

Zugleich hat eine Reihe von Initiativen erfolgreich an den verwundbaren Punkten transnationaler Unternehmen angesetzt. Die genau getakteten, über große Distanzen verstreuten Einzelschritte der bedarfssynchronen Produktion (just-in-time) lassen sich mit Kampfmaßnahmen an einzelnen Punkten erheblich stören. Die von den Konzernen am Markt um teures Werbegeld aufgebauten Marken sind zudem gegenüber öffentlichen Kampagnen äußerst angreifbar. Beeindruckende Beispiele gibt es insbesondere in der globalen Bekleidungsindustrie, allen voran die internationale »Kampagne für saubere Kleidung«. Auch für die Arbeitsbedingungen im Agrarsektor und der Nahrungsmittelproduktion gelingt es immer wieder, mediale Aufmerksamkeit zu erringen. Weil Logistik kein externer Faktor, sondern zentraler Bestandteil komplexer Produktionsnetzwerke geworden ist, können ArbeiterInnen unter günstigen Umständen die Prekarisierungsdynamik in diesem Bereich abschwächen und wie die ITF im Rahmen der Billigflaggenkampagne gewisse soziale und arbeitsrechtliche Mindeststandards für Seeleute global durchsetzen.

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