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- Die LINKE und Migration
Gute Arbeit und gleiche Rechte für alle
Deutschland hat kein Problem mit Flüchtlingen, sondern mit sozialer Ungleichheit. Die Antwort darauf: Solidarität
Deutschland ist längst eine Einwanderungsgesellschaft. 25 Prozent der Bevölkerung haben ihre Wurzeln in anderen Ländern. In einer Stadt wie Stuttgart haben 45 Prozent der Einwohner*innen einen Migrationshintergrund. Es ist ein Märchen, dass die Arbeitsmigration in erster Linie die Gesellschaft belastet. Das Gegenteil trifft zu. Alle verfügbaren Daten belegen, dass die Arbeitsmigrant*innen im Verhältnis mehr in die Sozialkassen einzahlen, als sie daraus erhalten. 2018 ist eine Studie des Schweizer Gewerkschaftsbundes erschienen, die nachweist, dass der Wohlstand in der Schweiz ohne die zahlreichen Einwanderer niemals möglich gewesen wäre. Das gilt erst recht für die Bundesrepublik.
Das Wohlstandsmodell des westdeutschen Kapitalismus ist ohne die hohe Zahl an Arbeitsmigrant*innen nicht denkbar. Wo die ehemals als »Gastarbeiter« bezeichneten Arbeitsmigrant*innen in die (west)deutschen Betriebe integriert wurden, haben die Gewerkschaften (im Rahmen ihrer damals noch besseren Verhandlungsposition mit Staat und Kapital) sichergestellt, dass kein neuer Niedriglohnsektor eröffnet wurde, sondern dass die ausländischen Kolleg*innen in die Tarifstruktur eingebunden wurden. Dabei war sicher nicht alles »golden«: Migrantische Beschäftigte stiegen meist in den unteren Tarifstrukturen ein, ermöglichten gewissermaßen den deutschen Kolleg*innen eine Art Fahrstuhleffekt innerhalb der Gesellschaft und in den Betrieben. Die oft prekäre Wohnsituation und die rechtlich schlechtere Stellung der nachgezogenen Familien und hierzulande geborenen Kinder haben zum Teil einen informellen Sektor befördert. Auch das zeigt: Nicht, dass die nicht-deutschen Beschäftigten Rechte haben, bedroht die Standards der ansässigen Bevölkerung, sondern wenn sie schlechter gestellt werden, sinken die Standards letztlich für alle.
Bernd Riexinger, Jahrgang 1955, ist Bundestagsabgeordneter und seit 2012 einer der beiden Vorsitzenden der Partei DIE LINKE. Zuvor war er viele Jahre Geschäftsführer des Bezirks Stuttgart von ver.di.
Sein neues Buch »Neue Klassenpolitik«, dem nebenstehender Auszug entnommen ist, erscheint dieser Tage im VSA Verlag. Riexinger beschreibt darin die Entwicklung der Arbeiterklasse in den vergangenen Jahrzehnten und entwickelt einen inklusiven Klassenbegriff. Im Gespräch mit dem Theaterregisseur Volker Lösch wird er sein Buch bei der Linken Woche der Zukunft am 15. September um 14 Uhr in Berlin (Franz-Mehring-Platz 1, Salon) vorstellen.
Bernd Riexinger: Neue Klassenpolitik. Solidarität der Vielen statt Herrschaft der Wenigen. VSA Verlag Hamburg, 160 S., 14,80 €
Den Gewerkschaften kommt das Verdienst zu, in den Betrieben wichtige Integrationsarbeit zu leisten. Und umgekehrt: Ohne die vielen Migrant*innen wäre es um die Kampffähigkeit so mancher Gewerkschaft weitaus schlechter bestellt. Was in vielen Betrieben gelungen ist, gilt für die Gesellschaft weitaus weniger. Am meisten leiden Kinder von Migrant*innen unter dem Bildungssystem, das stark nach sozialer Herkunft selektiert. Noch immer wohnen überwiegend Migrant*innen in den Wohngebieten, die am stärksten von Lärm, Abgasen und Verkehr belastet sind. Noch immer sind Migrant*innen stärker von Erwerbslosigkeit und sozialer Ausgrenzung betroffen. 2015 verdienten die Menschen, die nach 2010 nach Deutschland migriert waren, im Schnitt nur 60 Prozent des Durchschnittseinkommens, im Jahrzehnt zuvor waren es noch 75 Prozent gewesen. Das Risiko, in Armut zu leben, war mit 29 Prozent für Migrant*innen deutlich höher als im gesellschaftlichen Durchschnitt.
Wer über soziale Brennpunkte und die am stärksten von neoliberaler Politik Betroffenen spricht, muss die migrantische Bevölkerung mit einbeziehen. Wer zu Recht die soziale Spaltung und Ausgrenzung beklagt, muss die soziale Lage der Migrant*innen genauso zum Gegenstand linker Politik machen wie die Lage der Menschen »deutscher« Herkunft, die prekär arbeiten und leben müssen. Konkurrenz um Arbeitsplätze und Lebenschancen ist Bestandteil des Kapitalismus, sie gehört zu seinem Wesen. Konkurrenz gibt es auch unabhängig von Arbeitsmigration und würde es auch ohne weitere Zuwanderung geben. Gegen Konkurrenz und vielfältige Spaltungsprozesse kämpft die LINKE für gesetzliche Mindestlöhne, Tarifverträge für alle, den Ausbau der Sozialsysteme und öffentlicher Daseinsvorsorge - nicht für die Begrenzung der Arbeitsmigration. Der Begriff der Solidarität ist inklusiv oder er verkommt zur Farce. Er schließt alle mit ein, gerade auch die Migrant*innen - auch die, die noch zu uns kommen. Es geht darum, mit ihnen zusammen für gute Löhne, gute Arbeit, gleiche Lebensbedingungen und gleiche Rechte zu kämpfen. Das ist das Gegenteil von dem, was die Rechte und neoliberale Kräfte machen.
Am besten können wir in Österreich sehen, was passiert, wenn jahrelang die Stimmungsmache gegen Migrant*innen, Geflüchtete und »den Islam« die politische Diskussion bestimmt. Während dort das Asylrecht verschärft und das Arbeitslosengeld für ausländische Arbeitskräfte drastisch gekürzt wurde, ruft das Kapital gleichzeitig zur großen Offensive gegen alle Beschäftigten auf. Die schwarz-blaue - oder besser schwarz-braune - Koalition aus Konservativen und FPÖ ermöglicht Arbeitszeiten von zwölf Stunden am Tag und 60 Stunden in der Woche, sie kürzt die Renten und schwächt die Gewerkschaften. Gerade deshalb muss die Linke jeder Art von Spaltung und dem Gegeneinander-Ausspielen von Geflüchteten, Arbeitsmigrant*innen und Einheimischen entgegentreten und die gemeinsamen (Klassen-)Interessen organisieren.
Der Internationale Sozialistenkongress hat 1907 in Stuttgart, meiner Heimatstadt, folgenden Beschluss zur Frage der Arbeitsmigration getroffen. Auch wenn manche sprachliche Formulierung nicht mehr in die heutige Zeit passt, ist dieses Programm als Kompass für die gesellschaftliche Linke aktueller denn je.
Der Kongress erklärt: »Die Ein- und Auswanderung der Arbeiter sind vom Wesen des Kapitalismus ebenso unzertrennliche Erscheinungen wie die Arbeitslosigkeit, Überproduktion und Unterkonsum der Arbeiter. Sie sind oft ein Mittel, den Anteil der Arbeiter an der Arbeitsproduktion herabzusetzen und nehmen zeitweise durch politische, religiöse und nationale Verfolgungen anormale Dimensionen an. Der Kongress vermag ein Mittel zur Abhülfe etwa drohender Folgen nicht in irgendwelchen ökonomischen oder politischen Ausnahmemaßregeln zu erblicken, da diese fruchtlos und ihrem Wesen nach reaktionär sind, also insbesondere nicht in einer Beschränkung der Freizügigkeit und in einem Ausschluß fremder Nationalitäten oder Rassen. (…)
Der Kongress erkennt die Schwierigkeiten, welche in vielen Fällen dem Proletariat eines auf hoher Entwicklungsstufe des Kapitalismus stehenden Landes aus der massenhaften Einwanderung unorganisierter und an niederer Lebenshaltung gewöhnter Arbeiter aus Ländern mit vorwiegend agrarischer und landwirtschaftlicher Kultur erwachsen, sowie die Gefahren, welche ihm aus einer bestimmten Form der Einwanderung entstehen. Er sieht jedoch in der übrigens auch vom Standpunkt der proletarischen Solidarität verwerflichen Ausschließung bestimmter Nationen oder Rassen von der Einwanderung kein geeignetes Mittel, sie zu bekämpfen. Er empfiehlt daher folgende Maßnahmen:
I. Für das Einwanderungsland:
1. Verbot der Aus- und Einfuhr derjenigen Arbeiter, welche einen Kontrakt geschlossen haben, der ihnen die freie Verfügung über ihre Arbeitskraft wie ihre Löhne nimmt (heute könnten wir sagen: europäische Werkverträgler, Leiharbeiter und Menschen, die keine Arbeitserlaubnis haben, Anm. B.R.).
2. Gesetzlicher Arbeitsschutz durch Verkürzung des Arbeitstages, Einführung eines Minimallohnes, Abschaffung des Sweating-Systems (heute: Subunternehmen oder Sweatshop, B.R.) und Regelung der Heimarbeit.
3. Abschaffung aller Beschränkungen, welche bestimmte Nationalitäten oder Rassen vom Aufenthalt in einem Lande und den sozialen, politischen und ökonomischen Rechten der Einheimischen ausschließen oder sie ihnen erschweren, weitgehendste Erleichterung der Naturalisierung (Einbürgerung, B.R.).
4. Für die Gewerkschaften aller Länder sollten dabei folgende Grundsätze allgemeine Geltung haben:
a) uneingeschränkter Zutritt der eingewanderten Arbeiter in die Gewerkschaften aller Länder,
b) Erleichterung des Eintritts durch Festsetzung angemessener Eintrittsgelder,
c) unentgeltlicher Übertritt von einer Landesorganisation in die andere bei vorheriger Erfüllung aller Verbindlichkeiten in der bisherigen Landesorganisation,
d) Erstrebung internationaler gewerkschaftlicher Kartelle, durch die eine internationale Durchführung dieser Grundsätze und Notwendigkeiten ermöglicht wird.
Unterstützung der Gewerkschaftsorganisationen derjenigen Länder, aus denen sich die Einwanderung in erster Linie rekrutiert.«
Es ist heute dringlicher denn je, diesen Kompass in eine zeitgemäße Initiative für eine solidarische, sozial gerechte Einwanderungsgesellschaft zu übersetzen. Denn die LINKE ist gesellschaftlich die einzige Kraft, die eine sozial gerechte Einwanderungsgesellschaft verwirklichen kann. Für die Solidarität mit Geflüchteten setzen sich auch viele Liberale, Konservative und Grüne ein. Sie sind wichtige Bündnispartner*innen in dieser Frage. Aber die Herausforderung, andere gesellschaftliche Verhältnisse und politische Rahmenbedingungen für eine solidarische Einwanderungsgesellschaft durchzusetzen, weist über die notwendige und richtige antirassistische Haltung hinaus. Es geht um eine verbindende und antirassistische Klassenpolitik.
Deutschland hat kein »Flüchtlingsproblem«, sondern ein vielgestaltiges Problem wachsender sozialer Ungerechtigkeit. Die Antwort von rechts besteht darin, Rassismus zu schüren, nach oben zu buckeln und nach unten zu treten: gegen Erwerbslose und Geflüchtete.
Unsere Antwort darauf lautet: Solidarität. Nicht nur als individuelle Tugend, sondern als gemeinsames Handeln, mit dem wir die Strukturen der Gesellschaft gestalten wollen. Solidarität zeigen etwa die Menschen, die sich in Willkommensinitiativen gegen Rassismus engagieren. Aber viele Helfer*innen der Geflüchteten fühlen sich von der Politik allein gelassen. Und tatsächlich arbeiten sie nicht zuletzt in den und gegen die »Lücken«, die in Sozialstaat und Infrastruktur gerissen wurden. Solidarität bedeutet auch: die großartige Arbeit der Freiwilligen wertschätzen und feiern - und sicherstellen, dass sie nicht bis zur Erschöpfung arbeiten müssen, weil sie staatliche Aufgaben zu übernehmen haben. Sicherstellen, dass Menschen gut untergebracht sind, dass sie Kleidung und Gesundheitsversorgung bekommen, dass sie juristischen Beistand erhalten, dass sie Sprachkurse besuchen können. Das sind Erwartungen, die wir an den Staat und an die Verwendung unserer Steuergelder richten.
Die gelebte Willkommenskultur trägt viel zu Integration und einem solidarischen Zusammenleben bei. Solidarität bedeutet auch, gemeinsam für eine sozial gerechte Einwanderungsgesellschaft zu streiten: soziale Sicherheit für alle statt Konkurrenz um Arbeitsplätze, Wohnungen und Bildung. Migrant*innen müssen dieselben Chancen haben, sich ein gutes Leben aufzubauen, die Sprache zu lernen, gute Arbeit zu finden, das kulturelle Zusammenleben mitzugestalten. Integration braucht gleiche Rechte und gleichen Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung. Solidarität bedeutet im linken Verständnis auch: Strukturen für ein besseres Leben für alle aufbauen. Im oben benannten Dreiklang unserer Positionen um Flucht und offene Grenzen ist die soziale Offensive für alle benannt.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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