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Mehr Plus als Minus in Ortegas Bilanz
Für Christian Klemm hätte der Sturz der sandinistischen Regierung in Nicaragua unabsehbare Folgen – vor allem für die Armen im Land
Lange war Nicaragua weitgehend aus den hiesigen Nachrichten verschwunden. Seit den Protesten in dem mittelamerikanischen Land, die sich an einer geplanten Rentenreform der Regierung von Präsident Daniel Ortega im April entzündeten, ist das anders. Eine Reihe von Berichten über Todesopfer, Inhaftierungen, Folter und Vergewaltigungen wurden veröffentlicht. Ob linke oder bürgerliche Zeitungen – sie alle haben mehr oder weniger den gleichen Sound: Ortega ist ein Machtpolitiker, der die Opposition unterdrückt und buchstäblich über Leichen geht. Hunderte Tote sollen bereits auf sein Konto gehen. Solidarität mit den Protestierenden sei für aufrechte Demokraten das Gebot der Stunde, so der Tenor.
Nicaragua befindet sich tatsächlich in einer Art Ausnahmezustand. Schwer bewaffnete Polizisten verhaften Menschen, die verdächtigt werden, auf Seiten der Opposition zu stehen. Viele Nicaraguaner gehen nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr vor die Tür. Von den Protestierenden gebaute Barrikaden aus Pflastersteinen legen Teile der öffentlichen Infrastruktur lahm. Die Menschen sind verunsichert, fürchten sich, ihre Kritik an der sandinistischen Regierung öffentlich zu machen. Und tatsächlich sind viel zu viele Tote und Verletzte (auf beiden Seiten) zu beklagen – wobei nicht genau feststeht, wie viele davon in unmittelbarem Zusammenhang mit den Protesten und der Reaktion der Polizei darauf stehen.
Hinzu kommt: Seit Jahren gibt es Kritik an Ortega und seiner Ehefrau und Vizepräsidentin Rosario Murillo. Das Präsidentenpaar versorge zuallererst eigene Familienmitglieder und ihnen loyale Funktionäre der Regierungspartei FSLN, heißt es. Für die einfachen Menschen bleibt außer Brotkrummen nur wenig übrig. Auch das Kanalprojekt und das strikte Abtreibungsverbot stoßen immer wieder auf Ablehnung.
Guckt man sich die Bilanz der fast zwölfjährigen Regierungszeit Ortegas jedoch etwas genauer an, dann liegt dieser Schluss nahe: Der Präsident hat mehr auf der Plus- als auf der Minusseite. Vor allem die Armen in den ländlichen Regionen Nicaraguas haben von seiner Politik profitiert. Und die sind es auch, die dem Präsidenten stets den Rücken gestärkt haben – und bis heute stärken.
Die amtierende Regierung hat es bereits vor Jahren geschafft, die Analphabetenquote auf unter vier Prozent zu drücken. Nach den Kriterien der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur ist Nicaragua damit frei von Analphabetismus. Das Gesundheitssystem in Nicaragua ist kostenlos. Selbst für Ausländer. Als ich mir vor Jahren in der westnicaraguanischen Stadt Leon einen Knochen am Sprunggelenk gebrochen habe, wurde ich ohne Bezahlung im städtischen Krankenhaus behandelt. Bei einer Rundreise durch die USA wäre das sicherlich anders gewesen.
Doch der »korrupte Massenmörder« Ortega (»Zeit«) hat noch mehr linke Politik gemacht, als viele ihm zugestehen. Das Bildungssystem ist kostenfrei. Schulkindern wird im Rahmen eines Null-Hunger-Programms eine Mahlzeit angeboten. Kostenpunkt: null Cordobas. Es gibt Elektrifizierungsprogramme, um Gebiete außerhalb der Städte mit Strom zu versorgen, so dass die Menschen vor Ort wenigstens ihre verderblichen Lebensmittel in einem Kühlschrank aufbewahren können. Das Land hat bereits vor Jahren rund die Hälfte seines Stroms aus Erneuerbaren bezogen – eine beachtliche Anzahl für einen Staat in Lateinamerika. Zwischenzeitlich wurden die Mindestlöhne angehoben.
Das alles steht jetzt auf dem Spiel – nicht zum ersten Mal übrigens. Als die sandinistische Regierung 1990 nach Jahren des US-finanzierten Contra-Krieges abgewählt wurde, fegte anschließend der Neoliberalismus die Errungenschaften der Revolution hinfort wie 1998 der Hurrikan Mitch die Wellblechhütten vieler Menschen. Zugegeben: Ortegas Politik ist sicherlich nicht mit der Zeit in den 1980er Jahren zu vergleichen. Aber besser als das, was den Menschen nach seinem Sturz droht, ist sie allemal.
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