Armee-Moral

Paul Virilio ist tot

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 2 Min.

Dem Kadavergehorsam, einem erfolgreichen Antriebsmodell der Geschichte, folgte der Palavergehorsam: die Meinungsinkontinenz in allen Medien als Missverständnis von sinnreicher Öffentlichkeit. Kommunikation hat längst ersetzt, was einst Gespräch hieß. Der gute alte Narr, umzingelt von Bildschirmen oder besser: Moni-Toren. Das war das Thema des französische Philosophen Paul Virilio: unser Zappeln im Datennetz, unser Erstarrtsein in Hochgeschwindigkeitsstrukturen.

»Lichtzwang« nannte der Dichter Paul Celan vor Jahrzehnten den Lyrikband, der sein Vermächtnis wurde. Virilio sprach von »Lichtzeit«: Wir leben im Transit der Tempi, die nur Steigerung kennen. Die Schnelligkeit aller Prozesse und Verbindungen schaffe »Großräume der Isolation«, alle »Ethik der Nähe« löse sich auf im »Rausch der Weitsicht« - die aber im Grunde blind mache für Begegnung und Berührung. Als »Dromologie« (griechisch: Lauf, Korridor) bezeichnete der Philosoph diese Ablösung von Zeit und Raum durch Geschwindigkeit. Die Zukunft werde in einer allumfassenden Ortlosigkeit bestehen, in der sich althergebrachte soziale Strukturen verhängnisvoll entleeren. Und vor allem: »Die Geschwindigkeit erhält die Moral der Armeen.« Schalten und Walten: ein Blitz-Krieg der digitalen Hybris.

Wir sind, so Virilio, angeschlossen an einen fortlaufenden Strom der »Entherzung«, der uns wahrscheinlich nicht weniger gefährlich infiziert, als es radioaktive Strahlen täten. Information härtet uns aus. Also muss die nächste Information noch explosiver, noch ästhetisch druckvoller sein, um uns überhaupt noch zu erreichen. Den Golfkrieg von 1991 charakterisierte der Philosoph als ersten »Fernsehkrieg« - ein »Krieg der scheinbaren Echtzeit«, dank einer satellitengestützen Allgegenwärtigkeit, dank einer telekommunikativ herstellbaren »Augenblicklichkeit«. Es war ein Militarismus der Lüge: Das Fernsehen hatte für uns eine virtuelle Welt erschaffen, hatte einen Krieg ohne sichtbare Opfer simuliert, der gewissermaßen fürs Abendprogramm annehmbar sein sollte - ein »Krieg der Kommunikationswaffen«.

Virilio wurde 1932 in Paris geboren, als Sohn eines aus Italien exilierten Kommunisten. In seinen Büchern (»Eroberung des Körpers«, »Der negative Horizont«, »Fluchtgeschwindigkeit«) träumte er von phantasievollen architektonischen Lösungen, gegen die Obdachlosigkeit und die Großraumsüchte der Effizienzverbohrten. Bis 1989 leitete er eine Pariser Spezialschule für Raumkunst. Mit dem Lächeln des verzweifelten Selbstironikers beschwor er bis zuletzt den Flaneur, wie eine reststörrische Figur vor den Toren des Nichts. Auto, Mobiltelefon und Fernsehapparat hatte er beizeiten aus seinem Lebensfeld verbannt. Bereits am 9. September, wie jetzt bekannt wurde, ist Paul Virilio 86-jährig in La Rochelle gestorben. Er lebte seit geraumer Zeit an der Atlantikküste. Fotos zeigen ihn am steinigen Strand. Zu den Steinen sprechen? Sie antworten immer und sagen die Wahrheit.

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