Deutsches Volkslied? Das klingt heute nach »Musikantenstadl« oder erinnert gar an die »Blut und Boden«-Lyrik der Nazis. In den 70er Jahren war es aber durchaus en vogue, sich mit »populärer Musik« auseinanderzusetzen. Damals entstand, als gesamtdeutsches Phänomen, die deutsche Folkbewegung. Ob Wolfgang Biermann oder »Wacholder« im Osten, »Zupfgeigenhansel«, »Liederjan« und Walter Mossmann im Westen - beiderseits des eisernen Vorhangs suchte man nach einer oppositionellen Liedkultur jenseits von Kulturindustrie und völkischem Liedgut. Doch welche Lieder sollte man singen? Der Faschismus hatte die Tradition des freiheitlichen, kritischen Volkslieds ausgelöscht. Folklore und bündisches Liedgut waren, nachdem sie im Nationalsozialismus aufgegangen waren, nach 1945 gründlich in Verruf geraten. Dass die Folkmusiker trotzdem fündig wurden, ist vor allem Wolfgang Steinitz zu verdanken: Sein Werk »Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten« stellte die erste umfassende historische Dokumentation des sozialkritischen Lieds in Deutschland dar. Dort konnte man Klagen von Bauern und Bergmännern finden, als auch wütende Lieder der Weberaufstände bis hin zum »Kerkerlied« eines inhaftierten kommunistischen Landarbeiters aus den 1930er Jahren. »Der große Steinitz«, wie die Sammlung des DDR-Volkskundlers (1905 - 1967) auch genannt wurde, erschien 1956, in den 70er Jahren wurde das Werk zur »Bibel« des Folk-Revivals. Daran erinnert dieser Band. Ausführlich wird das Leben von Steinitz geschildert, der auch KPD-Mitglied und aktiver NS-Widerstandskämpfer war. Nach der Rückkehr aus dem Exil in Schweden, war sein Leben in der DDR ein »Balanceakt« zwischen der Rolle als Parteifunktionär und seiner Identität als kritischer, freiheitsliebender Wissenschaftler. Jürgen B. Wolff, Mitbegründer der Gruppe »Folkländer«, erinnert sich, dass manch kritisches Volkslied der Zensur zum Opfer gefallen wäre, sein Publikum nicht gefunden hätte, hätte man nicht auf den »großen Steinitz« verweisen können. Peter Fausers Beitrag zeigt, wie Friedenssongs in der DDR durch die Ideologie des »bewaffneten Friedens« verdrängt wurden. Lieder wie »Unsere Panzerdivision« gaben den offiziellen Ton an. Und ein altes Lied der Sozialdemokratie aus den 1870er Jahren mit der kämpferischen Abschlusszeile »Soldat der Freiheit will ich gerne sein« erlebte bald einen ganz neuen Sinn. Dahingegen wurde die Veröffentlichung eines Hefts des Thüringer Folklorezentrums mit Soldatenliedern »gegen Krieg, Söldnertum und Militarismus« 1986 erst einmal von übereifrigen Parteifunktionären abgelehnt. Oppositionelle Soldatenlieder, denen Steinitz in seiner Schrift großen Raum gab, spielten aber auch in der Bundesrepublik eine politische Rolle. Barbara Book vom Deutschen Volksliedarchiv reflektiert, wie Lieder über Zwangsrekrutierungen im alten Preußen und Deserteure auch gegen die Bundeswehr vorgetragen wurden. Dem Autor des Abstechers in die Geschichte des politischen Volkslieds im Mutterland der Marseillaise unterläuft jedoch ein Ausrutscher: Der französische Rap sei kein Nachfolger des Protestlieds, weil er »unpolitisch« sei und oft »wortreich zum generellen Hass gegen die Gesellschaft aufrufe«. Ein typisches Missverständnis. Auch Steinitz hatte die nicht weniger sozialkritischen »Gossen-Songs« von Gaunern, Dirnen und Landstreichern unbeachtet gelassen. Wie Eckhard John feststellt, zeigte sich dieser mitunter gar antimodern: Boogie-Woogie galt ihm als »Pseudokultur«, stattdessen schwärmte er vom Volkstanz. Das Folkrevival wiederholt diese Engstirnigkeit. Wie Bernd Hanneken anmerkt, verbindet dahingegen die neue Weltmusikszene Folklore facettenreich mit globalem Pop und hat trotzdem oft ein beachtliches kritischen Potenzial.
Eckehard John (Hg.): Die Entdeckung des sozialkritischen Lieds. Waxmann, Münster. 210 S., br., 19,90 EUR, inklusive CD.
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