Labour vor der Brexit-Entscheidung
Kongress der von Jeremy Corbyn geführten Partei beginnt am Sonntag in Liverpool
Oppositionsparteien schreiben selten Geschichte. Aber wenn die Regierung keine Parlamentsmehrheit besitzt und in sich zerstritten bleibt wie zur Zeit Theresa Mays Konservative, bekommen ihre Labour-Gegner Chancen. Werden Jeremy Corbyns linke Delegierte beim am Sonntag beginnenden Parteitag in Liverpool die Gelegenheit ergreifen, offen gegen einen brandgefährlichen Brexit auftreten und eine zweite Volksabstimmung über die von May ausgehandelten Austrittsbedingungen erzwingen?
Bisher lautet Labours offizielle Linie: Abwarten und Tee trinken. 2016 war das verständlich. 30 Prozent der Labour-Wähler und die meisten ihrer nord- und mittelenglischen Wahlkreise hatten gerade für den Brexit gestimmt, ein vorschneller Sprung nach der einen oder anderen Richtung hätte schwere Verluste riskiert. Außerdem galten Labours prominenteste Brexit-Gegner wie Chuka Umunna oder Hilary Benn als rechte Corbyn-Gegner, gar mögliche Parteispalter. Also blieb das Austrittsthema auf dem Parteitag von 2017 außen vor. Offiziell verlangt Labour noch immer den Sturz von Mays Regierung sowie Neuwahlen, aber hinter der Hand steht das »People’s Vote« weiterhin auf der Tagesordnung - und wird wohl beim Parteitreffen in Liverpool nach vorne rücken, wie von 110 Wahlkreisanträgen verlangt.
Das ist zum Teil das Verdienst von Labours Brexit-Sprecher Sir Keir Starmer. Aber auch objektive Faktoren halfen dem beharrlichen Austrittsgegner. In über hundert früheren Brexit-Wahlkreisen haben sich inzwischen vor allem Labour-Anhänger gegen den Austritt gewendet, im Lande wird die Zweitabstimmung von einer klaren Mehrheit befürwortet, mit einer allerdings geringeren Mehrheit von etwa sechs Prozent für den EU-Verbleib. Das würde Corbyn den Schwenk zugunsten einer Zweitabstimmung erleichtern. Zumal es der von May beim EU-Gipfel in Salzburg vorgelegten Alternative - »Mein Chequers-Deal oder kein Deal« - den Garaus machen könnte.
Denn weitere wichtige Argumente könnten die Labour-Delegierten überzeugen. Auch die handwerklich miserable Verhandlungsführung von Theresa May kann die wahren Brexit-Absichten der rechten Tories nicht verdecken: Steuerkürzungen für Firmen und Reiche, ein Rückzug des Staates aus dem Sozialbereich, Deregulierung und weniger Arbeiterrechte stehen beispielsweise auf dem Programm des noch als gemäßigt geltenden neuen Innenministers Sajid Javid. Wiedergewinnung der »nationalen Souveränität« heißt für die Mitglieder von Jacob Rees-Moggs European Research Group ein Zerhacken des Sozialstaats.
Auch daher sind eine Reihe eindeutig linker Gruppierungen wie »For Future’s Sake« oder »Another Europe is possible« Anhänger der Zweitabstimmung. Gewerkschaftler wie Tim Roache von der GMB werden vor dem Parteitag auf einer geplanten Großkundgebung gegen den Brexit auftreten. Noch zieren sich einige Vertreter des Schattenkabinetts wie Handelssprecher Barry Gardiner davor, warnen gar vor »bürgerlichem Ungehorsam« bei einem zweiten Referendum.
Aber hier sprechen die Fakten eine andere Sprache. Bisher zeigen sich keine parlamentarischen Mehrheiten für Mays Chequers-Kompromiss, erst recht nicht für den katastrophalen ungeordneten Austritt. Vor Neuwahlen haben Tory-Abgeordnete berechtigte Angst. Dann bliebe eine Zweitabstimmung die einzige Möglichkeit. Hier könnte eine mutige Entscheidung Corbyns Beliebtheit im Lande noch steigern.
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