Verstaubtes Regelwerk
Obwohl sie häufig nominiert worden waren, blieb einigen großen Forschern der Nobelpreis verwehrt
Auf dem Weg nach Stockholm muss ein Nobelpreisträger viele Hürden nehmen. Denn jedes Jahr werden gewöhnlich mehr als hundert Kandidaten für einen der drei wissenschaftlichen Nobelpreise nominiert. Berechtigt dazu sind neben Institutionen wie Akademien der Wissenschaften auch Einzelpersonen, namentlich frühere Preisträger des jeweiligen Fachs. Aus der großen Gruppe der anfangs Nominierten wählen die drei Nobel-Komitees 20 bis 30 Personen aus und lassen deren Arbeit von renommierten Experten begutachten. Anhand dieser Gutachten sowie eigener Einschätzungen erstellen die Komitee-Mitglieder eine Shortlist, aus der letztlich die Kandidaten ausgewählt werden. Danach geht der Vorschlag an die preisverleihenden Einrichtungen (für Physik und Chemie an die Schwedische Akademie der Wissenschaften, für Medizin an das Karolinska-Institut), deren Mitglieder nach erneuter Diskussion die Laureaten festlegen.
Trotz dieses gründlichen Verfahrens, das geheim abläuft, kommt es in Stockholm immer wieder zu Fehlentscheidungen. Manche Preisträger haben im Rückblick die hohe Auszeichnung gar nicht verdient, andere wurden bei der Vergabe des Nobelpreises schlicht übergangen. Und das, obwohl sie aufgrund ihrer Leistungen häufig nominiert worden waren.
Wie etwa der US-Physikochemiker Gilbert Newton Lewis, der unter anderem dadurch bekannt wurde, dass er das Energiequant des Lichts auf den griffigen Namen »Photon« getauft hatte. Außerdem schuf er eine Elektronenformel, die bis heute zur Darstellung der Elektronenstruktur und der Bindungsverhältnisse in Molekülen benutzt wird. Er erweiterte das Säure-Basen-Konzept um die sogenannten Lewis-Säuren und stellte erstmals schweres Wasser durch Elektrolyse von gewöhnlichem Wasser her. Insgesamt 41-mal wurde Lewis für den Chemie-Nobelpreis vorgeschlagen. Erhalten hat er ihn nicht.
Ebenso wenig wie Ferdinand Sauerbruch, der legendäre deutsche Chirurg, der eine Unterdruckkammer für Operationen am offenen Brustkorb erfunden und auch auf anderen Gebieten der Chirurgie bahnbrechend gewirkt hatte. So entwickelte er eine Armprothese, die amputierten Menschen half, wieder ins Berufsleben zurückzufinden. Zwischen 1912 und 1951 wurde Sauerbruch 65-mal für den Medizin-Nobelpreis vorgeschlagen. Die Nobel-Jury stufte seine Leistungen jedoch als nicht originell genug ein und verwehrte ihm den Preis.
1944 erhielt der deutsche Chemiker Otto Hahn den ungeteilten Chemie-Nobelpreis für die Entdeckung der Kernspaltung. Fritz Straßmann, der maßgeblich an der Analyse der Spaltprodukte beteiligt gewesen war, ging in Stockholm leer aus. Gleiches widerfuhr Lise Meitner, der das Verdienst gebührt, die erste theoretische Deutung der Kernspaltungsexperimente gegeben zu haben. 48-mal befand sie sich in der Vorauswahl für den Nobelpreis, vorgeschlagen unter anderem von Werner Heisenberg, Niels Bohr und Max Planck, der noch in seinem Todesjahr 1947 vergeblich versucht hatte, seiner ehemaligen Studentin den Weg nach Stockholm zu ebnen.
Zu den einflussreichsten Physikern im frühen 20. Jahrhundert gehörte Arnold Sommerfeld. Er hatte an der Universität München eine Schule der theoretischen Physik begründet, aus der zahlreiche Nobelpreisträger hervorgingen. Zwar entwickelte Sommerfeld keine umwälzenden Theorien, er trieb jedoch die Anwendung neuer mathematischer Methoden auf physikalische Probleme voran. 1916 erweiterte er das Bohrsche Atommodell, indem er darin Kreisbahnen durch Ellipsenbahnen ersetzte, so dass es möglich wurde, die Feinstruktur der Spektrallinien des Wasserstoffatoms zu berechnen. Dies war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Schaffung der Quantenmechanik. Sage und schreibe 84-mal wurde Sommerfeld für den Nobelpreis vorgeschlagen, öfter als jeder andere Physiker. Genützt hat es ihm nichts.
Nach Meinung des Osloer Wissenschaftshistorikers Robert Marc Friedman war daran vor allem der schwedische Physiker Carl Wilhelm Oseen schuld. Als führendes Mitglied des Nobel-Komitees sei dieser gegen die neuen formalistischen Methoden in der Atomphysik und damit auch gegen Sommerfeld gewesen. Außerdem habe er dafür gesorgt, dass Heisenberg relativ lange auf den Nobelpreis habe warten müssen. »Oseen schätzte einfach nicht die Art, wie Heisenberg seine Physik betrieb«, so Friedman.
Auch in jüngerer Zeit gab es Beschwerden darüber, dass Forscher, die den Nobelpreis eigentlich verdient hätten, gegenüber weniger Verdienten zurückgesetzt worden seien. 2008 etwa wurde der Physikpreis zu einer Hälfte an den Japaner Yōichirō Nambu verliehen. Die andere Hälfte ging an dessen Landsleute Makoto Kobayashi und Toshihide Masukawa - »für die Entdeckung des Ursprungs der gebrochenen Symmetrie, welche die Existenz von mindestens drei Familien von Quarks voraussagt«. Italienische Physiker waren über diese Entscheidung empört, da sie meinten, dass auch ihr Kollege Nicola Cabibbo hätte berücksichtigt werden müssen. Denn der sei als Erster zu den zentralen Ideen der Theorie gelangt, Kobayashi und Masukawa hätten diese später lediglich erweitert. Da jedoch nur maximal drei Personen pro Sparte und Jahr den Nobelpreis erhalten können, wurde Cabibbo ein Opfer des überkommenen Regelwerks.
»Die Nobel-Komitees machen einen grundlegenden Fehler«, meint der US-Wissenschaftsautor Michael Moyer. »Sie bestehen darauf, die Auszeichnung an wenige Einzelpersonen zu verleihen, obwohl sich das Wesen der wissenschaftlichen Forschung zutiefst gewandelt hat. Die Hauptarbeit machen heute Teams, nicht Einzelkämpfer.« Das wurde besonders deutlich bei der Verleihung des Physik-Nobelpreises für den Nachweis der Expansion des Universums (2011), die Entdeckung des Higgs-Bosons (2013) und die Detektion von Gravitationswellen (2017). Hier wurden jeweils zwei beziehungsweise drei Personen stellvertretend für mehrere Arbeitsgruppen prämiert, die zum Teil aus Tausenden von Forschern bestanden.
Es sei an der Zeit, dass die Nobel-Jury auf die neuen Entwicklungen in der Forschung reagiere, meint Moyer. Dazu müsste man allerdings die Statuten ändern. Denkbar wäre beispielsweise, den Preis an mehr als drei Einzelpersonen zu vergeben. Eine weitere Möglichkeit bestünde darin, neben Individuen auch Institute oder andere Einrichtungen bei der Verleihung zu berücksichtigen, so wie dies beim Friedensnobelpreis seit langem geschieht. Vielleicht gäbe es dann weniger Anlass für Beschwerden gegen die geheim getroffenen Nobel-Entscheidungen. Martin Koch
Foto: dpa/Heritage Auctions
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