• Berlin
  • Herbst der Besetzungen

»Bis wir nicht mehr geräumt werden können«

Aktivisten der Kampagne #besetzen haben am Samstag wieder Wohnungen besetzt

  • Johanna Treblin und Niklas Franzen
  • Lesedauer: 6 Min.

Gerade war es noch ruhig gewesen vor der Berlichingenstraße 12 in Moabit. Nur ein Mann im blauen Pullover sitzt vor dem Jugendzentrum nebenan auf einem niedrigen Mäuerchen. Doch dann kommen mehrere Menschengruppen aus beiden Richtungen. Sie biegen auf einen schmalen Weg ein, der zu einem Spielplatz führt, und kommen wenig später mit Matratzen und anderen Möbeln zurück. Dann laufen sie ein paar Schritte weiter, öffnen die Tür der Berlichingenstraße 12 und tragen die Gegenstände ins Haus. Nach etwa einer Viertelstunde kommen ein paar von ihnen wieder hinaus, von innen wird die Tür verschlossen. Wenig später werden in einem der oberen Stockwerke Fenster geöffnet und ein Transparent aufgehängt. Ein zweites folgt, dann ein drittes: »Hurra, hurra, der Herbst der Besetzungen ist da!«

Wieder haben Aktivist*innen ein Haus besetzt, dieses Mal in Moabit. Das Haus steht – so bestätigen es später auch Nachbar*innen und Politiker*innen – seit einem Jahr leer. Zuvor war dort jahrelang ein Heim für Wohnungslose untergebracht, nach jahrelangem Streit wurden die letzten Bewohner Anfang September 2017 geräumt. Anschließend wurden neue Fenster eingebaut, Nachbar*innen zufolge die Wohnungen entrümpelt. Dann sei nichts mehr passiert.

«Gut, dass es noch so mutige Leute gibt»

Wie reagieren Nachbar*innen, Politiker*innen und ehemalige Bewohner auf die Besetzung? Ein paar Antworten.
Sebastian Morbach, Erzieher im Jugendzentrum in der Berlichingenstraße 8-11: »Ich finde Besetzungen sinnvoll. Ich habe früher selbst in einer Wohnung gewohnt, die meine Freundin besetzt hatte. Warum sollen Häuser leerstehen?«
Reinhard Michael Kilian, ehemaliger Bewohner der Berlichingenstraße 12: »Ich kam zufällig vorbei und dachte erst, da protestieren die Mitarbeiter von Siemens. Die Besetzung finde ich natürlich klasse. Schade, dass die Sache wieder so ein schnelles Ende finden soll.«
Taylan Kurt, fachpolitischer Sprecher der Grünen in der Bezirksverordnetenversammlung Mitte: »Ich war schon immer dafür, Wohnungen per Allgemeinem Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) für Wohnungslose zu beschlagnahmen.«
Stephan von Dassel, Grüner Bezirksbürgermeister von Mitte, per Twitter: »Aktuell verklagt der Eigentümer das Bezirksamt auf 23.000 Euro Schadensersatz wegen entgangener Mieteinnahmen. Die damaligen Bewohner seien nur wegen der Unterstützung des Bezirksamts nicht schnell genug ausgezogen. Wie passt das zum jetzigen langen Leerstand?«
Nachbarin aus der Berlichingenstraße 3, die ihren Namen nicht nennen wollte: »Immer mehr Menschen verlieren ihren Wohnraum und können sich nichts Neues in Berlin leisten. Einer meiner Nachbarn ist nach Halle gezogen, ein anderer wohnt jetzt in einem Übergangsheim. Gut, dass es Menschen gibt, die etwas dagegen tun. Gut, dass es noch so mutige Leute gibt.«
Canan Bayram, Grüne Bundestagsabgeordnete: »Festhalten kann man: Das Haus steht leer, und das wollen wir nicht.«
Lisa Sommer, Sprecherin der Kampagne #besetzen: »Wir sehen die Verantwortung zum Handeln ganz klar beim Senat. Das Haus steht seit über einem Jahr leer. Der Senat hätte es enteignen müssen. Der Eigentümer verstößt gegen das Zweckentfremdungsverbot.«
Tobias Schulze, stellvertretender Landesvorsitzender der LINKEN in Berlin: »Das Zweckentfremdungsverbot trifft hier nicht zu, weil es kein Wohnhaus ist, sondern Gewerbe. Wir müssen uns jetzt darüber Gedanken machen, wie wir vielleicht dennoch das Vorkaufsrecht nutzen können.«
Katrin Schmidberger, mietenpolitische Sprecherin der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, per Twitter: »Es kann doch nicht sein, dass Spekulation gesetzlich geschützt wird, Mietrecht radikal ändern!«
Niclas Beiersdorf von der Berliner Obdachlosenhilfe, per Pressemitteilung: «Wir sind frustriert davon, dass trotz der massenhaften Ausweitung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit in dieser Stadt höchstens die Elendsverwaltung optimiert wird während Ursachen unangetastet bleiben. Währenddessen stehen Wohnungen, ja ganze Häuser, leer. Wir freuen uns dass die Besetzer*innen das Haus für obdach- und wohnungslose Menschen öffnen wollen.«
 

»Wir wollen das Haus wieder für Wohnungslose öffnen«, sagt Lisa Sommer, Sprecherin der Besetzer. Sie können sich eine Mischnutzung vorstellen, sagt sie, dort auch Studierende unterbringen, aber das müsse gemeinsam mit möglichen zukünftigen Nutzern besprochen werden.

Mittlerweile haben sich etwa 30 Menschen vor die Haustür gesetzt und blockieren den Eingang. Weitere 100 nehmen an der spontan angemeldeten Kundgebung vor dem Haus teil.

Auch in Kreuzberg wird besetzt. Gegen 13 Uhr verschafft sich eine Gruppe von Aktivist*innen Zugang zu einem Haus in der Skalitzer Straße 106 und nimmt die Kellerräume in Beschlag. »Wir haben besetzt, weil der Vermieter plant, hier Ferienwohnungen einzurichten«, sagt die Aktivistin Kim Schmitz dem »nd«. »Wir glauben, dass man den Keller viel besser nutzen könnte.« Sie wollen dort einen unkommerziellen, selbstverwalteten Sportraum einrichten. In Kreuzberg gebe es zu wenige Möglichkeiten, kostenfrei Sport zu treiben.

Wenig später haben sich rund 70 Aktivist*innen und Unterstützer*innen vor dem Haus versammelt. Die Sonne scheint, auf einem Tisch ist ein veganer Brunch aufgebaut, aus Boxen dröhnt Punk- und Rapmusik. Neugierige Tourist*innen beobachten das Spektakel und machen Fotos von den Transparenten.

So oft wie in diesem Jahr wurden lange nicht mehr Häuser in Berlin besetzt. Dahinter steckt die Gruppe »Besetzen Berlin«. Zunächst nahmen sie am Pfingstwochenende mehrere Häuser in Beschlag. Im September verschafften sie sich unter dem Motto »Herbst der Besetzungen« Zutritt zum geplanten Googlecampus in Kreuzberg, dann zu weiteren leerstehenden Wohnhäusern oder Wohnungen. Lediglich in der Großbeerenstraße 17a ließ sich der Eigentümer darauf ein, den Besetzer*innen – zunächst bis zum 14. Oktober – eine Wohnung zu überlassen.

Im linksalternativen Kreuzberg ist die Solidarität mit den Besetzter*innen groß. Ein älterer Herr radelt an einer Gruppe Polizist*innen vorbei und ruft: »Was würdet ihr denn machen, wenn euch euer Vermieter vor die Tür setzt?« Ein hochgewachsener Polizist mit Kurzhaarschnitt antwortet schlagfertig: »Ich habe eine Eigentumswohnung.« Özden Cosku, Betreiber eines nahen Spätkaufs, meint zwar, die Besetzung sei illegal. Aber, wenn die Aktivist*innen mit ihren Anliegen auf andere Weise kein Gehör finden, seien solche Aktionen »schon okay«.

Sowohl in Kreuzberg als auch in Moabit dauert es an diesem Samstag nicht lang, bis die Polizei erscheint. In Moabit fährt zunächst ein Streifenwagen mit Blaulicht vorbei, dann dreht er eine zweite Runde. Erst dann kommt der erste Mannschaftswagen, die Straße wird gesperrt. Bald darauf haben sich die Einsatzhundertschaften vor und neben dem Haus in der Berlichingenstraße 12 platziert und warten.

Eine Band spielt auf, Die »Popcorn-Brüder« lassen Maiskörner platzen. Politiker*innen kommen vorbei, darunter Taylan Kurt, der für die Grünen in der Bezirksverordnetenversammlung von Mitte sitzt. Er kritisiert den Leerstand. Das Haus hätte längst von Gewerbe- zu Wohnraum umgewidmet werden müssen. »Wir sind bereit, bis zu 900 Euro pro Bett und Monat in einer Notübernachtung zu zahlen, aber wollen kein Geld für Wohnungen ausgeben.«

Gegen 16.30 Uhr bestätigt die Polizei, dass sie mittlerweile den Eigentümer erreicht habe und Strafanträge gestellt worden seien. Der Eigentümer wolle räumen lassen. Einsatzleiter Thorsten Beese sagt dem »nd«: Die Aktion sei ja »ne tolle Sache«, aber die Besetzer hätten ja nun auf die Problematik aufmerksam gemacht, jetzt könnten sie auch gehen.

Der mittlerweile eingetroffene SPD-Baustadtrat von Mitte Ephraim Gothe hofft, selbst mit dem Eigentümer sprechen zu können. »Der Weg der Verhandlungen kann nur über den Eigentümer führen«, erklärt er. Als positives Beispiel nennt er den Ausgang der Besetzung in der Großbeerenstraße. »Dort war der Eigentümer auch bereit, mit den Besetzern zu verhandeln.«

Bald darauf tauchen auch Vertreter des Eigentümers der Berlichingenstraße 12 auf. Bereitschaft zum Verhandeln ist zunächst keine da. Das Haus sei schließlich vermietet, da könne man es keinem anderen Nutzer überlassen. Später heißt es, der bisherige Mieter, die Firma Gicon, habe längst gekündigt, werde aber nicht aus dem Mietvertrag entlassen.

Die Grüne Bundestagsabgeordnete Canan Bayram taucht auf. Sie telefoniert mit dem im Ausland weilenden Eigentümer, der Bereitschaft zum Verhandeln signalisiert. Bei einem zweiten Telefonat, dem mehrere Politiker*innen per Lautsprecher zuhören, sagt er dann »Räumen, räumen, räumen« – womit die Polizei kurz darauf beginnt.

Auch in der Skalitzer Straße verschafft sich die Polizei noch am Nachmittag Zugang zum Haus. Rabiat drängen Polizist*innen die Demonstrant*innen von der Eingangstür ab, es kommt zu Rangeleien. Mehrere Menschen werden festgenommen. »Es ist eine Schweinerei, dass das Eigentumsrecht mit dem Knüppel durchgesetzt wird«, sagt Sprecherin Schmitz. Den Aktivist*innen zufolge liefen Verhandlungen mit dem Vermieter, und es lag kein Räumungsgesuch vor. Der kommt dann später doch. Etwa zeitgleich mit der Räumung in Moabit – gegen 20 Uhr – hat auch in Kreuzberg die Räumung begonnen. Die Besetzer verlassen das Gebäude freiwillig, erklären aber, der Kampf um die Räumlichkeiten sei noch nicht vorbei.

Sprecher Charly Winter sagt dem »nd«: »Wir hoffen, dass sich uns viele Menschen anschließen und Häuser besetzen werden. Bis wir nicht mehr geräumt werden können, weil wir zu viele sind.«

Die Besetzer wollen spekulativen Leerstand verhindern und fordern, Wohnraum nicht als Ware zu behandeln. Da Tausende Menschen auf der Straße leben, biete die Kampagne einen praktischen Lösungsansatz, erklärte eine Sprecherin der Besetzer dem »nd« kürzlich im Interview. »Wir wollen mit den Besetzungen nicht nur Zeichen setzen, sondern praktische Veränderungen herbeiführen. Wir wollen unkommerzielles, selbstverwaltetes Wohnen.«

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