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DDR-Geschichte zum Anfassen
Schüler aus Mecklenburg-Vorpommern radeln entlang des einstigen Grenzstreifens
Schwerin. Als die Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland 1989 fiel, waren Julia, Johanna und Jette noch nicht auf der Welt. Sie sind 16 und 17 Jahre alt - die deutsche Teilung kennen sie nur aus dem Geschichtsunterricht und aus Erzählungen der Eltern und Großeltern. Sie wollten genauer wissen, wie das war mit der DDR und dem Mauerfall. Darum sind sie mit 16 anderen Schülerinnen und Schülern aus Mecklenburg-Vorpommern mehr als 200 Kilometer entlang der ehemaligen Grenze geradelt, zwischen Schlagsdorf in Mecklenburg und Wittenberge in Brandenburg.
»Geschichte ist eines meiner Lieblingsfächer«, sagt Johanna. Ihre Großeltern sprächen viel über das Leben in der DDR. Sie sei also irgendwie involviert, findet die Schülerin aus Malchin. Bei Julia ist das anders: »Der Bruder meines Opas wurde an der Grenze erschossen. Meine Familie spricht nicht viel über die Zeit.« Sie möchte wissen, »was da passiert ist«. Am Vorabend der Reise führte sie ein langes Gespräch mit ihrer Großmutter, von dem sie den anderen im Laufe der Tour ausführlich berichten wird. »Meine Oma hat mir zum ersten Mal Details erzählt, die wussten nicht mal meine Eltern.«
Der erste Stopp ist eine Station zum Anfassen: Um das Außengelände des »Grenzhus Schlagsdorf« verläuft ein Original-Grenzzaun. Der Leiter des Informationszentrums, Andreas Wagner, ermuntert die Schüler: »Fasst den Zaun mal an - fühlt ihn und stellt euch vor, Ihr müsstet da drüberklettern.« Hände streichen über das scharfkantige Metall, die Schüler versuchen vergeblich, ihre Finger in Schlitze zu stecken.
Die Jugendlichen sollen auf der Tour unterschiedliche Seiten der DDR-Geschichte kennenlernen. Darum treffen sie ehemalige Häftlinge ebenso wie Grenzsoldaten. Organisiert wurde die »Grenzradtour 2018«, es ist bereits die fünfte, vom Büro der Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Stasi-Unterlagen gemeinsam mit der Landeszentrale für politische Bildung und dem Verein Politische Memoriale.
Im Laufe der fünftägigen Reise queren die Schüler mehrmals den einstigen Grenzverlauf. Ihr Auftrag wird sein, anschließend in ihren Schulen und Regionen von den Geschichten und Erfahrungen zu berichten, sagt Justizministerin Katy Hoffmeister (CDU), die die Gruppe auf den ersten Kilometern mit dem E-Bike begleitet.
Zur Gedenkstätte für Michael Gartenschläger müssen die Schüler tief in den Wald bei Leisterförde fahren. Dort wurde der einstige politische Häftling und Fluchthelfer 1976 von Grenzsoldaten erschossen. Er wollte geheime Selbstschussanlagen am Grenzzaun abschrauben, um sie im Westen bekanntzumachen. In drei Kurzreferaten hatten sich die Schüler am Vorabend mit der Biografie des Mannes befasst und darüber diskutiert, ob Gartenschläger ein Held war und ob sein Vorhaben leichtsinnig gewesen ist.
Jetzt stehen sie genau an der Stelle, an der vor mehr als 40 Jahren die tödlichen Schüsse fielen. Gemeinsam mit Zeitzeugen, die sich ehrenamtlich um die kleine Gedenkstätte kümmern, räumen die Schüler erst mal auf: Der Schaukasten muss geputzt, das zwei Meter große Edelstahlkreuz poliert, die Bank frisch lasiert werden. Am Ende gibt es eine Gedenkfeier: Die ehemaligen Mitstreiter sprechen ein paar Worte, anschließend einige Schüler. Kein Kichern oder verstohlenes Schielen aufs Handy. Eindrucksvoller kann man Geschichtsunterricht wohl nicht gestalten.
Die Jugendlichen sollen über die DDR nicht nur Argumente »in Schwarz oder Weiß« hören, sagt Burkhard Bley. Er ist stellvertretender Landesbeauftragter für die Stasi-Akten und begleitet die Tour jedes Jahr. Sie sollten sich ihr eigenes Urteil über die DDR bilden. »Und im besten Fall denken sie auch darüber nach, was der Wert von Demokratie für sie bedeutet.«
Die Teilnehmer hören im Laufe der Woche mehrere Geschichten von geglückten und gescheiterten Fluchtversuchen. Erhart Schelter schwamm 1974 von Boltenhagen aus durch die Ostsee. Bis spät in den Abend berichtet er, wie er die Flucht vorbereitet und durchgeführt hat. Nach einer Lesung des ehemaligen Grenzsoldaten Wolfgang Kniep diskutieren die Schüler über dessen Aussage »Zum Glück musste ich nie schießen, aber ich hätte es getan.«
Hary Krause können sie nicht mehr treffen: Er wurde 1951 als Zehnjähriger beim Schlittschuhlaufen auf dem Dorfteich von einem Grenzsoldaten erschossen. Die Schüler legen einen Strauß aus selbst gesammelten Blumen an der Gedenkstätte in Groß Thurow nieder.
Körperlich kommt so mancher Teilnehmer auf der Radtour an seine Grenzen. Die Abschnitte sind zwischen 38 und 50 Kilometer lang. Am Ende haben alle durchgehalten und sind auch ein bisschen stolz. An jeder Station wartet der »Demokratiebus« der Landeszentrale für politische Bildung mit Wasser und dem Gepäck der Teilnehmer.
Johanna sagt am Ende der Tour, sie sei überrascht, wie wenig heute von der alten Grenze zu sehen ist. Die Gespräche mit den Zeitzeugen fand sie »krass« und am beeindruckendsten an der Reise. Jette: »Das war wirklich Geschichte zum Anfassen.« epd/nd
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