Auf der Jagd nach einem Betttuch

Christoph Ruf hat etwas gegen übertriebene Polizeieinsätze in Fußballstadien

Die vergangenen Tage haben mir eine mittelschwere Identitätskrise verschafft. Seit ich mit meinem Buch »Fieberwahn« auf Reisen bin, erzähle ich allerorten, dass es zwei Gewissheiten gibt. Erstens: Sterben muss man. Zweitens: Der FC Bayern wird das nächste Spiel gewinnen. Und nun das: Niederlage in Berlin, Unentschieden gegen Amsterdam, FC Bayern München gegen Borussia Mönchengladbach 0:3. Das klingt wie Heiligabend im Juni oder eine intelligente Doku auf RTL II. Oder FC Bayern auf Tabellenplatz fünf.

Wenn Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen, ist immer der Trainer schuld. Weshalb der VfB Stuttgart am Sonntag auch Tayfun Korkut vor die Tür gesetzt hat und der FC Bayern vielleicht schon bald bei Jupp Heynckes oder Otmar Hitzfeld anrufen wird. Eine gute Wahl, das Durchschnittsalter im Kader nähert sich den beiden älteren Herren schließlich Jahr für Jahr mehr an.

Vielleicht liegt die Krise der Bayern aber auch an einem Umfeld, das einfach zu harmonisch ist, als dass das Reizklima entstehen könnte, das für Spitzenleistungen unabdingbar ist. Wo doch schon das Oktoberfest zu einer Art bajuwarischem Woodstock verkommen ist - mit Andrea Berg als Janis Joplin. Die Münchener Polizei zeigte sich jedenfalls »extrem zufrieden«. Nur 869 Einsätze habe es gegeben, nur 476 Straftaten, nur 21 Fälle von sexuellen Belästigungen und zwölf Masskrugschlägereien. Okay, einen Toten gab es auch noch. Ob Mord vorliegt oder Totschlag, klären die Gerichte demnächst. Diese Zahlen sind die vom zweiten Wochenende, sieben weitere Tage folgten, die Gesamtzahlen dürften also um etwa ein Drittel höher ausfallen.

Um nicht falsch verstanden zu werden, es geht hier nicht darum, den Behörden Verharmlosung vorzuwerfen. Bei mehr als sechs Millionen Besuchern waren die Festivitäten wohl tatsächlich so friedlich wie eine Feier nur sein kann, bei der Menschen, die sich so ausstaffieren wie Wiesn-Besucher, in Wallungen geraten. Der durchschnittliche »Atemlos«-Brüller müsste also schon Pech gehabt haben, wenn er gerade in der Nähe war, als Gewalttaten verübt wurden. Die Polizei hat nur ihren Job gemacht. Sie hat die Zahl der dokumentierten Straftaten ins Verhältnis zur Gesamtzahl der Besucher beim größten Volksfest der Erde gesetzt. So muss das sein.

So macht sie es aber nicht beim Fußball. Wenige Stunden nachdem die Münchener Polizei ihre Zahlen veröffentlicht hatte, hatte ich im tiefsten Westen der Republik das Vergnügen, die Arbeit ihrer Wuppertaler Kollegen aus der Nähe zu beobachten. Ultras des Wuppertaler SV waren wenig amüsiert darüber, dass das Heimspiel ihrer Elf gegen Rot Weiß Oberhausen kurzfristig auf einen Montagabend gelegt worden war, weil Sport1 das Spiel live im Fernsehen übertragen wollte. Beide Fangruppen skandierten also »Scheiß Sport1«. Zudem brachten WSV-Ultras ein entsprechendes Transparent auf der Gegengeraden an, dort also, wo es die gegenüber angebrachten TV-Kameras einfangen mussten. Nun hatte der Sportdirektor des Vereins im Vorfeld beschlossen, dass Protesttransparente gegen Sport1 verboten seien, hatte allerdings vergessen, das der Fanszene auch mitzuteilen. Sein verhängtes Verbot reichte dennoch aus, um ein paar Dutzend Polizisten während des Spiels durchs Stadion rennen zu lassen, um ein paar Dutzend Fans zu verfolgen. Es reichte aus, um nach dem Spiel die Personalien von 50 Fans feststellen zu lassen. All das wegen eines Stücks Stoff.

Nun stelle man sich einmal vor, die Staatsmacht würde mit solcher Vehemenz gegen politische Demonstranten vorgehen, die ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrnehmen. Passierte es in Russland oder der Türkei, wäre der Beweis erbracht, dass es sich bei den entsprechenden Staaten nicht um echte Demokratien handeln kann. Und weil das stimmt, kann man es erst recht nicht begreifen, dass in einem Land, dessen Sicherheitsapparat angeblich so überlastet ist, dass er weder islamistische Gefährder noch sächsische Neonazis effektiv kontrollieren kann, Dutzende Beamte damit ihre Zeit damit verschwenden, einem bemalten Betttuch hinterherzurennen.

Läge das Wuppertaler Stadion auf der Münchener Theresienwiese, wäre die Bilanz des Montagabends wie folgt ausgefallen: null Fälle von sexueller Belästigung, null Fälle von Körperverletzung, keine einzige Schlägerei. Das Stadion wäre der mit Abstand friedlichste Bereich der ganzen Festwiese gewesen. Und der einzige, auf dem es einen Großeinsatz der Polizei gab.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Mehr aus: Sonntagsschuss