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Wohin geht’s nach dem Aufstehen?
Mitten in die Debatten über die von Sahra Wagenknecht initiierte Bewegung hinein erscheint ein Buch, das Orientierung verspricht
Am 4. September teilte die von Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine initiierte Bewegung »Aufstehen« offiziell ihre Gründung mit. Fünf Wochen später ist die Zahl der angegebenen Unterstützer auf 160 000 angestiegen. Die Ungeduld, praktische Ergebnisse zu sehen, wächst auf der einen Seite, während auf der anderen Unklarheiten noch immer nicht gänzlich ausgeräumt scheinen.
Letztere betreffen letztlich die Bewertung dieser Bewegung. Zweifel, nicht zuletzt an der politischen Redlichkeit ihrer Initiatoren, werden ausgerechnet in den Reihen der LINKEN geschürt; die Partei, für die Wagenknecht als Fraktionsvorsitzende im Bundestag sitzt. So etwas schafft Verunsicherung. Handelt es sich um eine Kopfgeburt ohne mitgedachte und mitgeplante Teilhabe der Basis? Treffen die Vorwürfe zu, Wagenknecht wolle der AfD Wähler abjagen und nehme eine Annäherung an deren Positionen in Kauf oder befördere sie gar? Stellt »Aufstehen« auf der anderen Seite eine Gefahr für links etablierte Parteien dar? Kurzum: Soll und kann man so etwas unterstützen?
Orientierung tut unverändert not. Rainer Balcerowiak hat jetzt ein Buch vorgelegt, das einen fundierten Überblick verspricht. Tatsächlich kann es dem Suchenden bei der Orientierung helfen. Einen Einblick in die sich derzeit formierenden Strukturen der Bewegung darf der Leser nicht erwarten. Dem Autor, der regelmäßig auch für diese Zeitung schreibt, geht es um eine Bewertung von »Aufstehen«. Rainer Balcerowiak hat zusammengetragen, was er an Indizien für eine gesellschaftliche Umbruchsituation fand, die eine solche Bewegung erklären kann. Dabei blickt er in die Geschichte der Bundesrepublik, wo politischer Veränderungsdruck von einer SPD unter Willy Brandt durchaus erkannt und genutzt wurde.
Balcerowiak trägt auch zusammen, was der Bewegung an Argumenten entgegenschallt - um zu fragen, was an ihnen dran ist. Er lässt Zweifler wie Anhänger zu Wort kommen, stellt das politische Projekt außer in seine historischen Bezüge auch ins Umfeld aktueller Verwerfungen in Europa und fragt nach den Folgen, die sie auf die Linkskräfte anderer Länder haben. Er bietet einen Blick auf die Bewegungen »La France insoumise« in Frankreich, Podemos in Spanien und auch auf die Unterschiede zum Wandel in der britischen Labour Party unter Jeremy Corbyn.
Dabei lässt er kaum Zweifel, auf welcher Seite er steht - auf der von »Aufstehen«. Weil die Bewegung »objektiv eine Massenstimmung aufnimmt«, wie Balcerowiak begründet, und weil das Erstarken der Rechtspopulisten der AfD zum Handeln zwingt. Das Konstrukt eines rot-rot-grünen Politikmodells ist für ihn schon zu Zeiten der immerhin rechnerischen Mehrheiten im Bundestag ein »Truggebilde« gewesen, jetzt sei es wegen der fehlenden Mehrheiten ohnehin passé. Ein Verzicht auf den Versuch einer neuen linken Sammlungsbewegung wäre für Balcerowiak hingegen »so etwas wie ein politischer Selbstmord aus Angst vor dem Tod«.
Die Option, die Bewegung notfalls zur parteiförmigen Kraft aufzurüsten, scheint dem Autor eine näherliegende Option, als die Organisatoren es bisher öffentlich einzuräumen bereit sind. Auch wenn Wagenknecht im Buch begründet, warum »Aufstehen« keine Partei sein will. Dann nämlich würde man die Unterstützer, die schon Mitglieder bestehender Parteien sind, »in die Zwangslage bringen, sich entscheiden zu müssen, welcher Partei sie angehören. Das wäre eine schwierige Situation, die wir vermeiden wollen«.
Balcerowiaks Sympathien für »Aufstehen« erklären einen gewissen Hang zur Polemik im Buch, dem man zudem stellenweise ansieht, dass es unter Zeitdruck geschrieben wurde. Verdienst des Autors ist es, in der zuweilen verwirrenden Emotionalität der öffentlichen Polemik die wesentlichen Debattenstränge im Auge zu behalten. So spielt die Auseinandersetzung in der Linkspartei zur Migrationspolitik, die auch die Befürworter und Gegner von »Aufstehen« spaltet, eine wichtige Rolle und dürfte wohl dafür sorgen, dass das Buch ebenso schnell Befürworter wie Gegner findet. Unentschlossene hingegen dürften von dem Angebot profitieren, Struktur in die Debatten zu bringen.
In erster Linie ist es die grundsätzliche Differenz zwischen dem »postmodernen« und menschenrechtsorientierten Universalismus auf der einen Seite, der zur Forderung nach offenen Grenzen führt und Regulierung von Migration als Verrat betrachtet, und einer Orientierung auf den Sozialstaat andererseits, die vor den Folgen unregulierter Arbeitsmigration warnt, die als eine Bedingung neoliberal dominierter Globalisierung begriffen wird. Die Vertreter letzterer Auffassung und damit auch »Aufstehen« werden von den postmodernen Linken gern als Anbiederung an Positionen eines allenfalls verkappten Nationalismus denunziert, während sie selbst mit gleich grober Münze ihren Widersachern traumtänzerische Unterwerfung unter den Neoliberalismus vorwerfen.
Balcerowiak neigt den Sozialstaatlern zu und scheut sich nicht, den Gegnern von »Aufstehen« in der Linkspartei - samt geschäftsführendem Parteivorstand - vorzuwerfen, dass diese sich in der Migrationsfrage auf postmoderne Politikansätze versteift hätten, »die mit der Lebensrealität der meisten Menschen im Kernklientel dieser Partei außerhalb der urbanen Mittelschichten wenig bis gar nichts zu tun haben«. Deutlich wird bei der Gelegenheit auch, warum ausgerechnet in der Linkspartei die Debatte mit solcher Härte geführt wird. Die Bewegung »Aufstehen« verweigert sich dem vermeintlich modernen linken Anspruch, aus der Globalisierung einen weltweit geltenden Vertretungsanspruch für die Abgehängten und Ausgegrenzten zu schließen, der in dieser Konsequenz nur in der LINKEN vertreten wird. Der Gründungsimpuls für »Aufstehen«, wo diese Sicht nicht geteilt wird, kommt nun aber gerade aus den Reihen der LINKEN.
Balcerowiak bezieht in seinen Überblick freilich auch SPD und Grüne ein. So sind Gespräche mit Vertretern der von linken Sozialdemokraten gegründeten Progressiven Sozialen Plattform eingeflossen, die zugleich Unterstützer von »Aufstehen« sind. Immerhin will die Bewegung ihre historische Chance nutzen, indem sie klassische sozialdemokratische Reformpolitik zu ihrem kleinsten gemeinsamen Nenner macht, wie Balcerowiak feststellt. Der Schluss, den der Autor zieht, geht über reine Bestandsaufnahme hinaus: »Mit ihrem Start kann ›aufstehen‹ zufrieden sein. Doch jetzt muss die Bewegung sichtbar werden, wenn sie nicht als Fußnote der bundesdeutschen Geschichte enden will. Dazu reicht es nicht, sich an bestehende Bewegungen wie die gegen den Mietenwahnsinn oder gegen die Abholzung des Hambacher Waldes anzuhängen. ›Aufstehen‹ muss, um Wirkung zu erzielen, zum Motor sozialer Bewegungen werden und diese zu einer Massenbewegung für einen Politikwechsel in Deutschland bündeln. Viel Zeit bleibt dafür nicht, denn der Vormarsch der Rechtspopulisten hat bereits jetzt erschreckende Dimensionen angenommen ...«
Rainer Balcerowiak: Aufstehen und wohin gehts? Eulenspiegel Verlagsgruppe. 144 Seiten, 10,- Euro, ISBN 978-3-360-01342-2 / Die Buchvorstellung mit dem Autor findet am 17.Oktober, 18.30 Uhr, in der Reihe »nd im Club« statt. Franz-Mehring-Platz 1, Münzenbergsaal
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