Porträt der Zeit

C/O Berlin zeigt das Gesamtwerk des amerikanischen Fotografen Nicholas Nixon

  • Manuela Lintl
  • Lesedauer: 4 Min.

Derzeit findet als länderübergreifendes Gemeinschaftsprojekt in Paris, Wien, Athen, Bratislava, Budapest, Ljubljana, Luxemburg und eben auch Berlin zum achten Mal der Europäische Monat der Fotografie statt. Die Besucher können in rund 120 Museen, Institutionen, Galerien, Projekträumen, Botschaften und Fotografieschulen auf Entdeckungsreise gehen und Ausstellungen historischer und zeitgenössischer Fotografie von einer enormen Vielfalt ansehen, die in dieser Form nach wie vor einzigartig ist. Eine davon ist die Retrospektive des amerikanischen Fotografen Nicholas Nixon in C/O Berlin Foundation in Charlottenburg. Der sachlich nüchterne Titel »Life Work« passt gut zu Nixons ausschließlich schwarz-weißen Aufnahmen aus einem Zeitraum von über 40 Jahren. Präsentiert werden die Werke nicht chronologisch, sondern thematisch. Das macht Sinn, denn Nixon, geborenen im Jahr 1947 in Detroit, arbeitet bevorzugt in Serien und verfolgt seine Sujets oft über mehrere Jahre bis Jahrzehnte. Zudem arbeitet er ausschließlich mit der Großformatkamera - abgesehen von ganz frühen kleinformatigen peripheren Stadtlandschaften, die mit einer Leica in New Mexico aufgenommen wurden.

Mit einer 8 × 10-Großformatkamera lichtete der damals 28-jährige Nixon, der sich erst relativ spät der Fotografie zugewendet hat, aber ihr dann umso nachhaltiger verfallen ist, im Juli 1975 seine damals 25-jährige Frau Bebe Brown gemeinsam mit ihren drei jüngeren Schwestern Mimi, Lauri und Heather für ein Gruppenporträt in Schwarz-Weiß ab. Die Schwestern posierten ungezwungen vor der Kamera ohne bestimmte Vorgaben, was ihre Mimik, Körperhaltung, Kleidung oder Gestik betraf. Im Gegensatz zu gängigen inszenierten Familienporträts besticht das Foto deshalb bis heute durch seine Unmittelbarkeit, Zeitlosigkeit und die Intensität des Gefühlsausdruckes - vor allem in den Blicken der vier jungen Frauen. Das Bildnis wurde zum Auftakt für Nixons inzwischen renommierte Serie »The Brown Sisters«. Einmal im Jahr kommt ein neues Porträtfoto der vier Schwestern hinzu. In Berlin sind alle bisherigen 42 Arbeiten in einem Raum als geschlossener Kreis zu sehen. Der immer gleiche Bildaufbau der vier Frauen in Frontalansicht und unter freiem Himmel - aufgenommen mit der gleichen Kamera und in gleicher Anordnung der Personen - führt dazu, dass man sich ganz auf den Wandel der Gesichter konzentriert, die fast unmerklich älter werden. Dabei reflektieren sie das Verrinnen der Zeit, die Vergänglichkeit und die drei Lebensalter nach der Kindheit. Schlichtheit und Intimität erreichen in dieser einzigartigen Familienporträtserie ein Höchstmaß. Eine Art Vertrautheit mit den vier Schwestern stellt sich ein. In dieser Serie sind bereit die wichtigen Stilmerkmale des Fotografen Nicholas Nixon markiert: die dokumentarischen Aufnahmen, die ausschließliche Verwendung von schwarz-weiß Fotografie, die motivische Konzentration auf Porträts und Menschenbilder und die Nutzung der antiquierten Großbildkamera. Nixon selbst spricht davon, dass die Kamera bei den Modellen Vertrauen hervorrufe, sie zum aktiven Mitmachen animiere und sich durch das erzwungen langsamere Arbeiten eine größere Nähe erreichen lasse. Was das bedeuten kann, wird vor allem ersichtlich, wenn man die 1984 begonnene und in Pflegeheimen aufgenommene Serie »Alte Menschen«, die Reihe »Menschen mit Aids« und die Serie »Paare« betrachtet. Fotos aus diesen drei Konvoluten sind in einem Ausstellungsraum zusammengefasst, der den Besuchern und Besucherinnen emotional viel abverlangt. Die Fotografien der Serie über 15 Aidspatienten im Endstadium der Krankheit war als Buchprojekt angelegt und entstand gemeinsam mit Nixons Frau Bebe. Die Sterbenden wurden im persönlichen Umfeld ihrer Familien und Angehörigen »porträtiert«.

Das in aufklärerischer Absicht entstandene schonungslose fotografische Soziogramm stieß gleich zu Beginn auf harsche Kritik. So warfen Vertreter der linksgerichteten Initiative »Act Up« Nixon vor, brutale Bilder geschaffen zu haben und das Leid anderer Menschen zur eigenen Selbstglorifizierung zu nutzen. Es war eine Reaktion auf die erste öffentliche Präsentation von Fotografien aus der noch nicht abgeschlossenen Serie »Menschen mit Aids« im renommierten New Yorker Museum of Modern Art (MoMA). Auch Aktivisten aus der anfänglich scheinbar am meisten von der sich seuchenhaft ausbreitenden Krankheit betroffenen Schwulenszene warfen Nixon vor, dass er Menschen zeige, die an Aids sterben. Richtiger wäre es, Menschen zu zeigen, die mit Aids leben würden. Nixon hielt seinen Weg aber für richtig und blieb dabei. In der Kunstwelt war er erfolgreich. Gleich drei Museen nahmen den Bilderzyklus nach Fertigstellung in ihre Sammlungen auf.

Heutige Betrachter und Betrachterinnen schauen sicher aus einem anderen Blickwinkel und mit verändertem Wissen auf die umstrittenen Fotos, die immer noch schonungslos wirken, aber längst eine zeithistorische Dimension erhalten haben. Das macht das Leid, die Einsamkeit, Angst, Hilflosigkeit und Traurigkeit in den Gesichtern im Angesicht des Todes nicht erträglicher, aber vielleicht zumutbarer.

Nicholas Nixon, »Life Work«. Bis 2. Dezember, C/O Berlin Foundation, Amerika-Haus, Hardenbergstraße 22-24, Charlottenburg, Täglich 11 - 20 Uhr

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