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Der einhändige Anarchist
Ilja Romanow sitzt seit Jahren im russischen Gefängnis - jetzt droht ihm eine weitere Verurteilung
Perm. Viele junge Anarchisten in Russland haben noch nie von ihm gehört. Internationale Bürgerrechtsorganisationen interessieren sich erst recht nicht für seinen Fall. Ilja Romanow, struppige dunkle Haare, breite Nase, könnte dabei derzeit wirklich jede Hilfe gebrauchen, die er bekommen kann. Dem 51-jährigen Aktivisten drohen nach einer Verurteilung von 2015 nicht nur neun Jahre Haft. Ein jüngst gestarteter neuer Prozess könnte ihn noch viele weitere Jahre hinter Gitter bringen. Unabhängig davon ist Romanow schon jetzt der »dienstälteste« anarchistische Gefangene in Russland. Und wie kaum ein anderer spiegelt er die wachsende Repression des Staates.
Romanow, aufgewachsen in der Stadt Nischni Nowgorod, damals noch bekannt unter dem Namen Gorki, begann als Schüler sein politisches Engagement. Während der Perestroika druckte er heimlich Flugblätter und gab eigene Zeitschriften heraus, dazu organisierte er sich in der »Konföderation der Anarchosyndikalisten« (KAS) und der radikalliberalen »Demokratischen Union«. Als Romanow sich der anarchistischen Bewegung anschloss, standen viele ältere Genossen, darunter die Wortführer der KAS, dem Marxismus und der Zusammenarbeit mit leninistischen Gruppen reserviert gegenüber. Romanow gehörte dagegen zu einer neuen Generation, für die eine Kooperation mit anderen Strömungen wie Trotzkisten kein Tabu mehr darstellte.
In den 1990er Jahren änderten sich die Betätigungsfelder der noch jungen antiautoritären Szene des Landes. Wie andere brachte sich Romanow in die Umwelt- und Hausbesetzerbewegung sowie die Proteste gegen den Tschetschenienkrieg ein. Der ideologische Antikommunismus der Perestroika-Anarchisten in den 1990er Jahren wurde durch ein generelles Interesse an 1968 und den neuen linken Bewegungen abgelöst. Ab den 2000er Jahren gewann aufgrund verstärkter rechtsradikaler Aktivitäten in Russland das Themenfeld Antifaschismus an Bedeutung.
Romanow fiel es jedoch mit der Zeit schwerer, der Entwicklung der Szene zu folgen. Die Behörden setzten den Aktivisten immer stärker unter Druck. 1998 wurde er erstmals wegen Drogenbesitz verhaftet, 2002 nahm man ihn erneut fest. Die Staatsanwaltschaft warf ihm Sprengstoffbesitz vor. Seine frühere Frau, die Aktivistin Larisa Schtschipzowa, stand damals ebenfalls wegen Terrorvorwürfen vor Gericht. Als die Behörden Romanow aufgrund mangelnder Beweise frei ließen, entzog er sich einer weiteren Verhaftung durch die Ausreise in die Ukraine.
Bereits im Dezember desselben Jahres wurde er dort jedoch erneut verhaftet. Zusammen mit zehn weiteren Ukrainern, Russen und Moldawiern wurde der Anarchist zum Angeklagten im Prozess um die »Komsomolzen von Odessa«. Die angebliche Terrorzelle soll Anschläge sowie die Ausrufung einer »sowjetischen Schwarzmeerrepublik« geplant haben. Ein Gericht verurteilte Romanow für einen Sprengstoffanschlag auf die Gebäude des ukrainischen Geheimdienstes in Kiew zu zehn Jahren Haft. Während die Ukraine 2004 von der ersten »Orangenen Revolution« und darauf folgenden politischen Krisen erschüttert wurde, schrieb der Aktivist einen Beschwerdebrief nach dem anderen. Er wollte die Lebensbedingungen seiner Mitgefangenen verbessern. Der Anarchist verließ die Ukraine 2012, nachdem er seine Strafe komplett abgesessen hatte.
Lange konnte Romanow - nun wieder in Russland - die neugewonnene Freiheit nicht genießen. 2013 verletzte er sich im Stadtpark von Nischni Nowgorod nach eigenen Angaben bei der Detonation eines selbstgebauten Knallkörpers. Das einzige Opfer - er selber. Noch im Krankenhaus, wo man Romanow seine linke Hand amputierte, wurde er verhaftet und im August 2015 wegen eines versuchten terroristischen Anschlags zu neun Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt.
In Samara steht Romanow jetzt wieder vor Gericht. Er soll vom Gefängniskrankenhaus aus mit einem Mobiltelefon »extremistische« Beiträge ins Internet gestellt und rechtsradikale Medien bezogen haben. Die Videos würden islamistische Propaganda verbreiten. Romanow streitet jegliche Sympathien für Islamismus und Rechtsradikalismus ab. Er vermutet eine Aktion der Geheimdienste. Weitere Jahre Knast drohen aufgrund eines »Aufrufs zum Terror«.
Ob die aktuelle Solidaritätskampagne für Romanow genügend politischen Druck erzeugen kann, ist ungewiss. Die politischen Aktivitäten des Anarchisten liegen weit zurück, seine Texte scheinen heute wenig Interesse zu wecken. Dazu scheint die derzeitige anarchistische Bewegung in Russland stark fragmentiert. Die größte Organisation, die 2002 gegründete »Autonome Aktion«, die auch die Solidaritätskampagne für Romanow initiierte, ist seit einer Spaltung 2013 geschwächt. Eine der aktivsten Organisationen der 1990er Jahre, die radikalökologischen »Rainbow Keepers« haben ihre Aktivitäten faktisch eingestellt, ebenso die russische Branche der »Internationale der Anarchistischen Föderationen«. Ihr Wortführer Pjotr Rausch lebt im schwedischen Exil. Die anarchosyndikalistischen Organisationen »KRAS« und »MPST« verfügen kaum über Betriebsgruppen, die wenigen anarchistischen Medien erscheinen nur unregelmäßig.
Seinen Prinzipien will Romanow nichtsdestotrotz auch im Gefängnis treu bleiben. In dem im vergangenen Jahr auf Deutsch erschienen Buch »Isolation und Ausgrenzung als post/sowjetische Erfahrung« hatte der Anarchist neben dem ebenfalls inhaftierten russischen Antifaschisten Aleksej Gaskarow und dem weißrussischen Anarchisten Igor Olinewitsch Briefe veröffentlicht. In diesen beklagt Romanow die Korruption und die Gewalt in russischen Gefängnissen.
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