Der alte Mann und das Eismeer

Im Kino: »Nanouk« erzählt von einem Ehepaar in Sibirien. Von Gunnar Decker

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Wie groß ist der Mensch? Das hängt vom Abstand ab, den der Betrachter wählt. Doch egal, wie dicht man mit der Kamera heranzoomt oder welchen extremen Weitwinkel man wählt: Die Natur ist größer. Davon erzählt Milko Lazarov in seinem Erstlingsfilm »Nanouk«. Es ist eine herbe Meditation über den Kreislauf von Werden und Vergehen im Norden Sibiriens. Aber auch hier hat der Mensch bereits Spuren hinterlassen, die zu lesen der Erfahrung von Nanouk (Mikhail Aprosimov) und Sedna (Feodosia Ivanova) bedarf, die ihr ganzes Leben im Eismeer zugebracht haben. Sie selbst wirken wie ein Teil dieser Landschaft, leben wie ihre Vorfahren vom Jagen und Fischen, ihre Jurte haben sie eigenhändig aus Rentierfellen gebaut. Sie besitzen wenig; etwas Holz zum Feuermachen und Kerosin für die Lampe bringt ihnen ein junger Mann aus der Stadt. Wenn er kommt, dann zerschneidet das Dröhnen des Motorschlittens die Stille der Eiswüste.

Rentiere sind für Nanouk nur noch eine kostbare Erinnerung. Es gibt sie seit einiger Zeit nicht mehr, und die weißen Schneehasen, die Nanouk früher in Fallen gefangen hat, liegen immer häufiger tot im Schnee, an einer mysteriösen Krankheit gestorben. Nun leben Sedna und Nanouk ausschließlich von Fischen, die zu fangen sie Löcher in die dicke Eisfläche bohren. Aber war das Eis nicht schon mal dicker und kommt das Frühjahr mit Plusgraden nicht jedes Jahr früher?

Nein, es ist kein vordergründiger Aufklärungsfilm über die sich vollziehenden ökologischen Katastrophen, es ist ein Film über ein altes Ehepaar im Eismeer, das spürt, dass sich etwas grundlegend ändert, obwohl das Weiß des Schnees immer noch bis zum Horizont reicht. Am Himmel sieht man die Kondensstreifen der Flugzeuge, und die beiden Alten ahnen, dass sie zwar am Rande der modernen Welt leben, aber nicht jenseits von ihr. Was sie aus dieser Industriewelt haben, die in Gestalt einer Diamantenmine bereits bis auf einige Tagesreisen zu ihnen vordringt, ist ein kleines Kofferradio. Die Nachrichten aus der anderen Welt interessieren sie wenig, das geht sie nichts an, aber manchmal gibt es Musik, der sie lauschen, wenn Sedna, die krank ist, keine Kraft mehr hat. Und wenn sie leise all jene Lieder gesungen haben, mit denen sie aufgewachsen sind. Gustav Mahlers Adagietto aus der 5. Sinfonie, das bereits Luchino Visconti zum Leitmotiv für seine Verfilmung von Thomas Manns »Tod in Venedig« wählte, ist ein wirkungsvoller Kunstgriff der Regie. Die beiden Alten hören das Adagietto, wie man nur hört, wenn man aus der Stille kommt. Der das gemacht hat, muss viel gelitten haben, sagt Sedna.

Doch die moderne Welt ist nicht gut für Menschen, wie sie es sind. Sie hat ihnen bereits ihre Tochter Aga geraubt, die nun ebenfalls in der Diamantenmine arbeitet. Nur sie halten hier noch aus. Das ist eine Konstellation, die an Goethes Philemon und Baucis am Schluss des »Faust II« erinnert. Unweigerlich werden sie zu Opfern dessen werden, was sich als Fortschritt so lange schon durch die Natur frisst - und immer noch nicht satt ist.

Lazarovs Film fasziniert durch die Macht archetypischer Bilder. Auf avantgardistische Weise werden sie hier rhythmussicher komponiert. Thema: Der alte Mann und das Eismeer. Denn Sedna stirbt eines Tages einen stillen Tod und Nanouk ist allein. Wenn er mit seinem Schlitten, den nur noch ein einziger Hund zieht, durch den Schnee fährt, dann sehen wir ein weißes Tableau - und ganz unten am Rand, da, wo bei einem Gemälde die Signatur ist, ihn auf seinem Schlitten. So klein ist der Mensch inmitten dieser gewaltigen Natur. Und doch, in dem schweren Alltag, an dem wir nun wieder in der Nahperspektive teilhaben, wächst er zu einer unvermuteten Größe. Wasser holen, Feuer machen, sich gegen den Wind stemmen, Eisblöcke zurechtschlagen, die Jurte frei von Schnee halten, Fallen stellen und kontrollieren - all das wiederholt sich ständig und ist schwer. Nanouk weiß, dass seine Tage hier gezählt sind, wie die Lebensweise seiner Vorfahren überhaupt. Er ist der Letzte in dieser langen Kette.

Es stimmt, seine Tochter ist fort, hat die Eltern und alle Vorfahren verraten. Aber es ist Zeit, ihr zu verzeihen, sie ist doch beider einziges Kind. Das hat Sedna kurz vor ihrem Tod zu ihm gesagt, und darum geht er los, Aga zu suchen. Der Film wird zum Roadmovie. Die Bilder und die Geräusche wechseln. Während in der Eiswüste jedes noch so beiläufige Alltagsgeräusch vernehmbar war, jeder noch so kleine Punkt im unendlichen Weiß wie der Kontrapunkt in einer Sonate funktionierte, so treten wir mit Nanouk nun ein in die Welt des Maschinenlärms, die ohne jedes Geheimnis ist, keine Geschichte mehr birgt, die es zu erzählen lohnt. Das, was wie eine Erleichterung mittels Technik erscheint, ist für Philemon-Nanouk nur eine unaufhaltsam näher rückende Zerstörungsgewalt. Nein, als Beifahrer eines Lkw auf dem Weg in die Diamantenmine, die riesige Kraterwunden im Boden der Tundra hinterlässt, taugt Nanouk nicht. Aber er hat ein Ziel, das ihn durchhalten lässt: seiner Tochter noch einmal in die Augen zu blicken.

So bemerkenswert wie dieser hervorragend komponierte Bildersog auch funktioniert, man stellt sich doch irgendwann die Frage: Ist das hier vielleicht ein allzu ungebrochen daher kommender Rousseauismus, hilft der Klageruf von der verlorenen Ursprünglichkeit irgendwie weiter, wo der Mensch doch unwiderruflich herausgetreten ist aus seinem Naturzustand - und sich eine eigene Lebensform, die Zivilisation, geschaffen hat?

Aufschlussreich ist, dass Andrej Platonow 1939, in der dunkelsten Zeit des Stalinismus, den Text »Ein neuer Rousseau« schrieb. Robespierre hat alle seine Mitkämpfer, auch die Jakobiner, auf die Guillotine geschickt, er ahnt, dass er ihnen bald folgen wird. Eine Todesspirale. Er, der den »Kult des höchsten Wesens« aus Rousseau destillierte und in puren Terror verwandelte, trifft auf dem Lande eine alte Frau, der seine Abstraktionen ganz und gar fremd sind. Ihr Leben ist schwer, voller Elend und Leid, aber sie lächelt. Wie kann das sein?, empört sich Robespierre. Ihre Antwort: »Ach, wir hausen schon so lange mit dem Leid unter einem Dach, sind so alte Bekannte, dass wir nur noch übereinander lachen können.« Sofort schaltet der geübte Demagoge in den Schwärmer-Modus um: Das sei eben die »Weisheit der Hütten«. Welch ein Trost jedoch, dass ein »höheres Wesen« über uns wache! Die alte Frau lächelt: »Da muss der liebe Gott aber in diesem Sommer einen tiefen Schlaf gehalten haben.«

Für Nanouk ist es nun auch im Herzen Winter geworden - und die Rolle des abstrakten Volksbeglückers Robespierre spielen wir selber. So grundsätzlich stellt Regisseur Lazarov hier die Frage, wie man leben soll. Eine Antwort, die über die Negation des Falschen hinausgeht, kann aber auch er nicht geben.

»Nanouk«, Frankreich/Deutschland/Bulgarien 2018. Regie: Milko Lazarov. Darsteller: Mikhail Aprosimov, Feodosia Ivanova, Galina Tikhonova. 97 Min.

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