Lieber frei als gleich

Wie die deutsche Sozialdemokratie sich von der sozialen Frage verabschiedet hat

  • Ulrich Maurer
  • Lesedauer: 6 Min.

In einem Lied des schwäbischen Dichters Georg Herwegh findet sich folgende, mich Zeit meines Lebens begeisternde Strophe:

»Brecht das Doppeljoch entzwei
brecht die Not der Sklaverei
brecht die Sklaverei der Not
Brot schafft Freiheit, Freiheit Brot.«

Der Autor

Ulrich Maurer, Jahrgang 1948, studierte Jura, war Landesvorsitzender der SPD in Baden-Württemberg und leitete die Landtagsfraktion von 1980 bis 2005. Im Frühjahr 2005 verließ er die SPD aus Protest gegen die Politik des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder, trat der Wahlalternative Arbeit & Soziale Gerechtigkeit (WASG) bei und kandidierte bei der Bundestagswahl auf der Liste der Linkspartei. Von 2005 bis 2013 war er Mitglied der Linksfraktion im Bundestag, zeitweise ihr parlamentarischer Geschäftsführer.

Der vorliegende Text ist ein Auszug aus Maurers neuem Buch »War’s das? Ein Nachruf auf die SPD«, das demnächst im Hamburger VSA-Verlag erscheint. Darin unterzieht er die krisenhafte Entwicklung der SPD einer kritischen Analyse. Wir dokumentieren hier vorab mit freundlicher Genehmigung des VSA-Verlags das Kapitel »Lieber frei als gleich - der Abschied von der sozialen Frage«.

Ulrich Maurer: War’s das? Ein Nachruf auf die SPD. VSA-Verlag, 160 Seiten. 14,80 Euro.

Der für alle linken Parteien und Bewegungen konstituierende Gedanke, dass es für die große Mehrheit der Menschen ohne Gleichheit keine Freiheit geben kann, ist von der auf die 68er folgenden Politiker*innen-Generation in SPD und Grünen in eineinhalb Dekaden zu Grabe getragen worden. Diese lau gebadeten Kinder der 68er, in ihrem Karrierestreben überaus listenreich, haben es in der Tat vermocht, sogar den Begriff von Linkssein aus dem Kampf um soziale Gleichheit und Gerechtigkeit auf einen Ausdruck individualisierten Freiheitsstrebens zu reduzieren.

Parallel dazu hat die SPD nahezu jeden Bezug zu ihrer ursprünglichen sozialen Basis verloren. Dieser Tage hat der mir ansonsten eher suspekte ehemalige Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky, die SPD als Verein von »Klugscheißern« bezeichnet. Dort, wo sich früher fünfzigköpfig Arbeiter, Handwerker und Angestellte auf Ortsvereinsversammlungen getroffen hätten, seien heute gerade mal acht dieser »Klugscheißer« damit beschäftigt, sich gegenseitig die Weltläufe zu erklären.

Diese Zustandsbeschreibung ist durchaus zutreffend. Allerdings verdrängt der rechte Sozialdemokrat dabei die schlichte Tatsache, dass gerade der rechte Flügel der SPD in seiner Geschichte immer wieder und spätestens seit Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts den Kampf für Gleichheit zugunsten eines Pakts mit dem Kapital aufgegeben hat. Der Siegeszug des Neoliberalismus in der Wirtschaftspolitik beginnt spätestens unter der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt.

Eine weitere wesentliche Ursache dieses von Buschkowsky so vulgär-dramatisch konstatierten Zustands liegt in der teilweisen Entpolitisierung der deutschen Gewerkschaftsbewegung. Noch in den 1970er Jahren kam auf den Unterbezirksparteitagen der SPD kein Beschluss am Votum der IG Metall- oder ÖTV-Bevollmächtigten vorbei. 20 Jahre später waren diese zumindest in der Südhälfte der alten BRD faktisch aus der Meinungsbildung der SPD verschwunden. Der fortschreitende Entfremdungsprozess hat viele Ursachen, die nur stichwortartig genannt werden sollen.

Die banalste ist wohl die, dass die Gewerkschaftsfunktionäre, auch durch den eigenen relativen Erfolg, in eine solche Aufgabenbelastung gezogen wurden, dass ihnen schlicht die Zeit für Parteidebatten fehlte. Diese waren im Übrigen durch den Einzug der 68er wesentlich anstrengender und zeitaufwendiger geworden.

Zum zweiten hatte die Intellektualisierung der Partei eine zunehmende Entfremdung der Sprach- und Erlebniswelt im Gefolge.

Zum dritten hat sich ein Teil der jüngeren Funktionärsgeneration in den Gewerkschaften politisch bewusst von der aus ihrer Sicht kaum noch reformistisch zu nennenden Mehrheits-SPD abgewandt. Der andere Teil, vor allem der höheren Funktionärsebene, folgte in politischen Fragen nahezu blind der Parteispitze. Die Bundes-SPD selbst hat mit der Gründung der sogenannten Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) den ursprünglichen Kern der Sozialdemokratie in eine von vielen Unterabteilungen ausgegliedert und sich damit alle mit »Arbeitnehmerfragen« verbundenen lästigen Debatten faktisch vom Hals geschafft.

Die tiefgreifendste Veränderung liegt aber wohl darin, dass eine Mehrheit von führenden Gewerkschaftsfunktionären in einem schleichenden Prozess ihren Anspruch auf eine Umgestaltung von Politik und Gesellschaft aufgegeben hat. Das brachte und bringt die Gewerkschaften in die fortlaufende Gefahr, zu reinen Tarifmaschinen zu degenerieren, die von einer Art Betriebsrätearistokratie beherrscht werden.

Konsequenterweise reflektiert die heutige SPD in ihren Wahlprogrammen und politischen Aussagen noch am ehesten das Bewusstsein von Facharbeitern und Angestellten gehobenen Einkommens, deren Interesse natürlicherweise primär auf Besitzstandswahrung ausgerichtet ist.

Mehr als 50 Prozent der Beschäftigten in Deutschland arbeiten in Unternehmen ohne Tarifbindung; hinzukommen die große Zahl der illegal oder in scheinselbstständiger Selbstausbeutung lebenden, wie die zwar tariflich aber schlecht bezahlten Frauen im sogenannten Dienstleistungsbereich. Angesichts dieser Tatsachen wird schnell klar, dass die aktuelle SPD allenfalls noch ein kleines, aber zunehmend schrumpfendes Milieu anspricht.

Der Entfremdungsprozess von der ehemaligen sozialen Basis ist naturgemäß in der sozialdemokratischen Diaspora, also in Süddeutschland, am weitesten vorangeschritten und wurde durch die Übernahme der ehemaligen DDR noch auf die Spitze getrieben. So ist die SPD heute in Bayern und Baden-Württemberg, aber auch in Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen allenfalls noch eine Zehn-Prozent-Partei.

Die katastrophale Entwicklung im »Beitrittsgebiet«DDR ist maßgeblich durch absolute Fehlentscheidungen der SPD-Bundesführung verschuldet. Die ideologisch reflexartige Ablehnung ehemaliger SED-Mitglieder und das Setzen auf eine ostdeutsche Splitterbewegung (SDP), die mehr protestantische Theologen als Industriearbeiter zu ihren Mitgliedern zählte, hat die SPD in weiten Teilen des Ostens von Anfang an zur Randpartei werden lassen.

Hinzu kommt, dass die West-SPD die geradezu kolonialistische Übernahme des Ostens durch westdeutsche Konzerne und die damit verbundene Vernichtung aller industriellen Kerne nahezu tatenlos hingenommen hat. Das teilweise kriminelle Treiben der sogenannten Treuhand wartet bis heute auf eine Aufarbeitung, die wahrscheinlich wieder mindestens so lange ausbleiben wird, wie die »Täter« noch am Leben sind. Statt dessen begnügte man sich mit der Entsendung von Kolonialoffizieren, die, von einigen leuchtenden Ausnahmen abgesehen, entweder jung und unerfahren waren oder abgehalfterte Beamte, die man schon immer loswerden wollte.

So erklärt sich die Entstehung und der Erfolg der PDS unter Lothar Bisky und Gregor Gysi, worüber man sich ja noch freuen kann, aber so wurde gleichzeitig auch die Saat für die AfD gelegt. Die ostdeutsche Lebenswirklichkeit ist vom Lebensgefühl des Cappuccino- und Prosecco-Zirkels, der in einem postmodernen Raumschiff Berlin-Mitte die reale Welt umkreist, unendlich weit entfernt. Je mehr die ehemalige PDS und jetzt LINKE schon aufgrund ihrer Vergreisung die Fähigkeit als »Kümmerer«-Partei verliert, umso mehr findet der aus Zurücksetzung gespeiste ostdeutsche Frust sein Ventil bei der AfD. Die Erziehungsdiktatur der SED hat an vielen Stellen den völkisch-deutschen Rassismus nur niedergehalten und unterdrückt, jetzt hat er wieder zunehmend freie Bahn.

Der individualisierte Freiheitstraum, den eine die SPD zunehmend dominierende Netzwerker-Generation feilbietet, ist wahrlich kein Angebot für das ostdeutsche Prekariat. Das Gerede von der Chancengerechtigkeit ist da noch absurder, wo es gar keine Chancen gibt. Aber auch die Partei DIE LINKE ist in großer Gefahr, ihre Politik auf die Befriedigung des großstädtischen Lebensgefühls pseudointellektueller Jugendlichkeit zu reduzieren.

Die Reduzierung des linken Grundanliegens, Gleichheit und Gerechtigkeit durchzusetzen, auf die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen markiert besonders deutlich die Zurücknahme des Klassenkampfs auf die Bitte um Almosengewährung. Die Vorstellungskraft der Protagonisten dieser neuen Variation der antiken Maxime von panem et circenses (Brot und Spiele) zur Ruhigstellung der Massen reichte offen sichtlich nicht aus, um die erwartbare Gegenstrategie eines kapitalistischen Systems zu begreifen. Für dieses System ist ein solcher »Reformschritt« zum einen nur Preiserhöhungsspielraum, zum anderen die billige Ausrede, um andere soziale Transferleistungen des Staates zu beenden. Das wird dann als dringend notwendiger Abbau von Bürokratisierung verkauft werden. Wehe den Behinderten, den alleinerziehenden Müttern, den Empfängern von Sozialtickets, verbilligten Eintrittskarten und Gehhilfen. Sie haben das Reich der Notwendigkeit verlassen und sind nun im Fantasia-Land des bedingungslosen Grundeinkommens angekommen.

Welch ein Segen aber für das Patriarchat. Der Patriarch heiratet in Zukunft nicht mehr nur eine billige häusliche Arbeitskraft, sondern diese bringt auch noch ihr bedingungsloses Grundeinkommen mit in die Ehe. Sie muss also gar nicht mehr arbeiten gehen dürfen, sondern kann sich vollständig der bewährten Rollenverteilung widmen. Endlich ist auch Platz für die alte Lieblingsidee der sozialdemokratischen Netzwerker, die Einführung von Studiengebühren. In Wahrheit ist nämlich das bedingungslose Grundeinkommen für die sogenannten Liberalen nichts anderes als das Tor in eine Welt, in der dann endlich alles seinen Kaufpreis hat.

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