• Wissen
  • Deutsche Wissenschaft nach 1918

Einsteins einsamer Kampf

Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs wurde die deutsche Wissenschaft international geächtet.

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 4 Min.

Albert Einstein gehörte zu den wenigen bürgerlichen Gelehrten in Deutschland, die offen ihre Sympathien für die Arbeiterbewegung bekundeten. Als er am 9. November 1918 vom Ausbruch der Novemberrevolution erfuhr, war er begeistert. In einem Brief an seine in der Schweiz lebende Schwester schrieb er: »Das Große ist geschehen! Dass ich das erleben durfte. Keine Pleite ist so groß, dass man sie nicht gern in Kauf nähme, um so einer herrlichen Kompensation willen. Bei uns ist der Militarismus und Geheimratsdusel gründlich beseitigt.« Erst jetzt fühle er sich wohl in Berlin, teilte er gleichzeitig seiner Mutter mit. »Die Pleite hat Wunder getan. Unter den Akademikern bin ich jetzt eine Art Obersozi.« Einstein, der nie einer Partei angehörte, wurde auch später häufig als Sozialist bezeichnet. Er wehrte sich dagegen nicht, ließ aber gelegentlich verlauten, dass er im weitesten Sinne »ein liberal denkender Demokrat« sei.

Anders als Einstein befürchteten viele deutsche Wissenschaftler, dass man sie nach der Niederlage des Kaiserreichs aufgrund ihrer Beteiligung an Kriegsforschungen zur Rechenschaft ziehen würde. Zwar enthielt der Versailler Vertrag unmittelbar keine Bestimmungen gegen deutsche Forscher. Allerdings waren die nationalen Akademien von Belgien, Frankreich und England bereits im Oktober 1918 übereingekommen, die deutsche Wissenschaft fortan zu boykottieren. Vor allem der 1914 veröffentlichte Aufruf »An die Kulturwelt«, in dem sich 93 führende deutsche Intellektuelle ausdrücklich zum deutschen Militarismus bekannt hatten, galt den Alliierten als Beweis für die enge Verflechtung von Wissenschaft, Industrie und Militär in Deutschland. Der Chemiker Fritz Haber, der im April 1915 den ersten Giftgasangriff der Geschichte geleitet hatte, wurde vorübergehend sogar als Kriegsverbrecher gesucht und floh deshalb in die Schweiz. Dessen ungeachtet verlieh ihm die Schwedische Akademie der Wissenschaften im Jahr 1919 für die Synthese von Ammoniak aus Stickstoff und Wasserstoff rückwirkend den Nobelpreis für Chemie.

Der Boykott der deutschen Wissenschaft vollzog sich auf mehreren Ebenen. Am schmerzlichsten für deutsche Forscher war, dass sie nicht mehr zu internationalen Kongressen eingeladen wurden. Französische und britische Wissenschaftler schufen neue Organisationen auf Gebieten, auf denen die Deutschen zuvor tonangebend gewesen waren. So ersetzten sie beispielsweise die seit 1899 bestehende »Internationale Assoziation der Akademien« durch den »International Research Council«, dem acht Fachunionen angehörten. Auch die deutsche Sprache sollte aus der wissenschaftlichen Kommunikation verbannt werden. Alliierte Gelehrte gründeten neue englisch- und französischsprachige Fachzeitschriften und nahmen Arbeiten aus Deutschland nicht einmal mehr in internationale Bibliografien auf.

Als Schweizer Staatsbürger war Einstein von dem Boykott kaum betroffen. Nachdem britische Forscher im Jahr 1919 die Ablenkung des Lichts im Schwerefeld der Sonne nachgewiesen und damit die Allgemeine Relativitätstheorie bestätigt hatten, stieg er überdies zu einer Art Popstar der Physik auf. Er erhielt Einladungen aus aller Welt und reiste in die USA, nach Südamerika, Japan und Palästina. Überall, wo er auftrat, sprach er Deutsch. Auch damit trug er dazu bei, den Boykott gegen die deutsche Wissenschaft zu durchbrechen, denn er hielt die internationale Zusammenarbeit der Gelehrten für ein unverzichtbares Mittel der Völkerverständigung.

Ursprünglich hatten die Siegermächte den Boykott auf zwölf Jahre angesetzt. 1926 wurde er jedoch vorzeitig abgebrochen. »Insbesondere Wissenschaftler aus den vormals neutralen Ländern, die den neuen Organisationen beigetreten waren, verlangten eine Aufhebung des Boykotts«, schreibt die Linguistin Roswitha Reinbothe. »Auch alliierte Wissenschaftler setzten sich dafür ein. Zudem wurde im Jahr 1926 Deutschland Mitglied des Völkerbunds.« Statt jedoch selbstkritisch ihre mitunter fragwürdige Rolle im Kaiserreich zu reflektieren, gaben sich maßgebliche Vertreter der deutschen Wissenschaft im Nachhinein zerknirscht und riefen zu einem Gegenboykott auf. Das heißt, sie verlangten eine Entschuldigung von den Alliierten und lehnten es ab, mit Gelehrten und Institutionen zusammenzuarbeiten, die sich dem Boykott angeschlossen hatten.

Einstein war während dieser Zeit politisch immer weiter nach links gerückt. Zum Entsetzen vieler seiner Kollegen verfolgte er den sozialistischen Aufbruch in der Sowjetunion mit Wohlwollen. Er sah in Lenin einen »Hüter und Erneuerer des Gewissens der Menschheit« und wurde Mitglied des »Bundes der Freunde des neuen Russland«. In Deutschland befürwortete er den Volksentscheid zur Enteignung der ehemaligen Fürstenhäuser, unterstützte die kommunistische »Rote Hilfe« und plädierte für die Verweigerung des Kriegsdienstes.

Am Ende freilich musste auch Einstein einsehen, dass seine Hoffnungen, die er in die Novemberrevolution gesetzt hatte, bitter enttäuscht wurden. Der deutsche Militarismus, der für ihn 1918 erledigt schien, erhob erneut sein Haupt und stürzte Europa in einen zweiten verheerenden Krieg. Im Jahr 1944 zog Einstein Bilanz. Es sei ein Fehler gewesen zu glauben, schrieb er in einem Brief, dass man »aus den Kerlen dort«, er meinte die Deutschen, »ehrliche Demokraten« machen könne. »Wie naiv wir doch gewesen sind als Männer von 40 Jahren. Ich kann nur lachen, wenn ich daran denke.«

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -