• Berlin
  • Legendärer Nachbarschaftstreff

Das alte »Café Sibylle« ganz neu

Der Kieztreff an der Karl-Marx-Allee ist wieder offen - die neue Besatzung sucht Anschluss

  • Tomas Morgenstern
  • Lesedauer: 4 Min.

Am Dienstagvormittag ist tote Hose im Café, eine einsame Kundin rührt verträumt in ihrem Cappuccino und schaut auf das gemächliche Treiben auf der Karl-Marx-Allee. Mag sein, dass sich die Neueröffnung nach fast siebenmonatiger Zwangspause noch nicht überall herumgesprochen hat: Das »Café Sibylle«, das vor 65 Jahren als »Milchtrinkhalle« entstand, ist wieder offen. Behutsam verschönert, mit neuer Besatzung und einem passablen gastronomischen Angebot. Und mit dem Versprechen, offen zu sein für Nachbarn und Besucher, Familien und Vereine, für Diskussionen und Kunst.

Christin Schramm, die neue Restaurantleiterin, und ihr Küchenchef Andreas Schneider haben schon mal ein turbulentes Eröffnungswochenende und einen anspruchsvollen Wochenbeginn bewältigt. »Wir hatten am Sonnabend und Sonntag durchgehend von 9 bis 19 Uhr ein volles Haus«, sagt Christin Schramm. »Ich glaube, die Leute kamen vor allem aus der Nachbarschaft. Die Kuchentheke war hinterher komplett leer.«

Der Kuchen kommt frisch von der Bäckerei in der Sophienstraße in Mitte. Der Mohnkuchen ist ein Gedicht, auch Omas Käsekuchen hält jedem Vergleich stand. Pro Tag geht auch ein kompletter »Kalter Hund« über die Theke. »Der Kuchen findet begeisterte Zustimmung, auch die Preise werden akzeptiert«, sagt die 36-Jährige.

Schneider, der mit seinen 34 Jahren nach eigenem Bekunden schon in Schottland und England gekocht hat, also »international«, und auch in der Sterne-Gastronomie unterwegs war, hat Rustikales auf dem Speiseplan wie selbst gemachten Kartoffelsalat mit Boulette oder Dampfwurst, Kartoffel-Lauch-Suppe - mit Würstchen oder vegan - aber auch Quiche mit Lachs. »Am besten ging jetzt schon mal Würzfleisch, aber auch unser Kleines Frühstück für 6,50 Euro wird gern genommen«, sagt er. Beim Angebot von Speisen und Getränken nimmt das Team gern Verbesserungsvorschläge und Wünsche entgegen, denn die bisherigen Betreiber haben keinerlei Hinweise hinterlassen, nur die Lieferanten geben hier und da einen Tipp. »Wenn uns die älteren Gäste eine Chance geben, dann zeigen wir, dass wir es nicht schlechter können als unsere Vorgänger«, sagt die Leiterin.

Am Montagabend fand die erste Abendveranstaltung statt - die Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - VVN-BdA - kehrte mit ihrem Antifa-Jour-fixe ins »Café Sibylle« zurück. Der 1928 in Berlin geborene Horst Selbiger, Sohn eines jüdischen Zahnarztes, der als Zehnjähriger die Novemberpogrome der Nazis erlebte, erzählte aus seinem Leben. Ab sofort lädt der VVN-BdA nun wieder Mitstreiter und Interessenten jeweils am 3. Montag im Monat in die Karl-Marx-Allee 72 ein. »Von 18.30 Uhr bis 21.30 Uhr war für drei Stunden jeder Platz besetzt«, so Schramm.

An der Theke lässt ein älteres Ehepaar einen Tisch nach den Weihnachtsfeiertagen reservieren. Wolfgang und Renate Saegebarth wollen ganz in Familie nachfeiern. »Wir wohnen hier seit 53 Jahren, gleich um die Ecke, in der Singerstraße, und waren schon so oft hier«, sagt er. »Wir freuen uns sehr, dass das Café wieder aufgemacht hat.«

Seit 15 Jahren wohnt Anja Köhler in der Karl-Marx-Allee und schätzt das »Café Sibylle« sehr. »Es ist so ein wichtiger Identifikationspunkt für die Leute in dieser Gegend, ich bin sehr froh, dass es wieder geöffnet wurde«, sagt sie. Als Juristin und Mediatorin setzt sie sich im Mieterbeirat gegen den drohenden Ausverkauf der »Stalinbauten« an der Karl-Marx-Allee an Investoren wie jüngst die »Deutsche Wohnen« ein. »Es ist ein beliebter Kieztreff, und ich mochte hier immer die tollen Veranstaltungen und Ausstellungen«, so Köhler. Das Frühstück jedenfalls war schon mal sehr gut.

Der neue Betreiber des Traditionscafés, das als eine der letzten Einrichtungen seit 1953 kontinuierlich am einstigen DDR-Vorzeigeboulevard betrieben wird, ist die puk a malta gGmbH. Der gemeinnützige Bildungsträger aus dem Stadtteil Wedding ist 1994 als »Ost-West-Frauenprojekt« entstanden, sagte Geschäftsführerin Angelika Zachau dem »nd«. Zachau, die aus dem Ruhrgebiet stammt, empfindet es als schöne Herausforderung, mit dem »Café Sibylle« nun diesen ganz besonderen Kieztreff im Osten mit neuem Leben zu erfüllen. »puk« steht für »projektschulung, unterrichtsmedien und kommunikation«, also für das Bildungsangebot. Und das dem Portugiesischen entlehnte »a malta« heißt »für die Menschen aus dem Kiez«. Wie gut das funktioniert, kann man im bunten Soldiner Kiez in Wedding anschauen.

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