Aus drei mach einen

Ansätze einer erneuerten Klassentheorie und Klassenpolitik – Thesen aus dem Projekt Klassenanalyse Jena

  • Klaus Dörre
  • Lesedauer: 10 Min.

Wir erleben ein Paradox. Oder gerade nicht? Klassenspezifische Ungleichheiten wachsen, Organisationen aus den Arbeiterbewegungen sind hingegen historisch schwach. Erodierende Regulation, kriselnde Gewerkschaften, die Marktmacht großer Konzerne sowie technologischer Wandel haben die Lohnquote seit den 1980er Jahren in allen OECD-Ländern bis in jüngste Vergangenheit kontinuierlich gedrückt. Selbst liberale Ökonomen wie Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), zählen die Bundesrepublik heute zu den ungleichsten Gesellschaften der OECD. Angesichts dessen wird in den - auch hiesigen - Sozialwissenschaften wieder von Klassen gesprochen, freilich sehr spezifisch: Weil in jüngerer Vergangenheit die Soziologie entökonomisiert und die Ökonomie entsoziologisiert wurde, dreht sich die Debatte heute meist um Kulturklassen. Vieldiskutiert ist das Modell der Drei-Drittel-Gesellschaft des Soziologen Andreas Reckwitz: Eine neue, gebildete Mittelklasse steige auf, die sich in Praktiken der Selbstkulturalisierung und Valorisierung von Lebensstilen herstelle. Das unterste Drittel hingegen stecke fest in einer Kultur von Verlierern und Abgehängten.

Bei aller Beschreibungsstärke haben kulturalistische Klassenkonzepte analytisch große Schwächen. Sie gehen erstens davon aus, dass eine breite Mittelklasse das Gros der Lohnabhängigen umfasst - was, wie etwa Michael Vesters Milieuanalysen zeigen, selbst in Westdeutschland real nie zutraf. Zweitens führt eine analytische Aufblähung der Mittelklasse dazu, Veränderungen und neue Konflikte in diese soziale Mitte zu verlegen. Cornelia Koppetsch etwa diagnostiziert eine Klassenspaltung innerhalb der Mittelschicht. So wird »Klasse« - theoretisch freihändig - zu einer Unterkategorie von »Schicht«.

Klaus Dörre

Klaus Dörre, 1957 in Nordhessen geboren, ist seit 2005 Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seit Jahren forscht er dort zu sozialem Wandel und zur Theorie des Kapitalismus. Als Gründungsmitglied des Instituts solidarische Moderne, das Kräfte links der Mitte miteinander ins Gespräch bringen will, arbeitet er auch an Perspektiven emanzipatorischer Politik. Zugleich interessiert er sich dafür, wie sich Protest rechts artikulieren kann.

Foto: dpa/Michael Schinke

Diese begriffliche Unschärfe deutet auf eine dritte Schwäche hin: Man reduziert Klassenkampf auf kulturelle Distinktion und verdoppelt so analytisch, was den Übergang zu mobilisierten, also handelnden Klassen blockiert. Schicht, schrieb schon Ralf Dahrendorf in Auseinandersetzung mit Karl Marx, ist ein deskriptiver Begriff, Klasse aber eine analytische Kategorie, die der Theorie bedarf. Klassen sind vor allem aus Strukturbedingungen hervorgehende Interessengruppierungen, die als solche in soziale Konflikte intervenieren und zu sozialem Wandel beitragen.

Ausbeutung, Enteignung und Ausschluss

An diese Stärke der - Fragment gebliebenen - Marx’schen Klassentheorie kann man anknüpfen. Im Unterschied zu Schichtungsmodellen benennen Klassentheorien Kausalmechanismen, die das Glück der Starken mit der Not der Schwachen verbinden. Für eine erneuerte Klassentheorie sind mindestens fünf Kausalmechanismen relevant. Erstens vertraglich auf Äquivalententausch beruhende - primäre - Ausbeutung (Karl Marx). Zweitens aus ungleichem Tausch, außerökonomischem Zwang, Dominanz und bürokratischer Kontrollmacht resultierende - sekundäre - (Über-)Ausbeutung (Nancy Fraser, Erik Olin Wright). In diesem Fall wird der Preis von Arbeitskraft deutlich unter deren Wert gedrückt. Drittens soziale Schließung (Max Weber): Soziale Netze schotten sich gegeneinander ab, man verkehrt, kommuniziert feiert, heiratet fast nur unter Seinesgleichen. Viertens Enteignung von Gemeineigentum und öffentlichen Gütern (Rosa Luxemburg), etwa durch die Privatisierung von Staatseigentum - sowie fünftens lebensweltliche Distinktion (Pierre Bourdieu) einschließlich der politisch-kulturellen Auf- oder Abwertungen sozialer Gruppen und Territorien (Luc Boltanski).

Im Kapitalismus wirken stets alle dieser Mechanismen, die Gewichtung verschiebt sich jedoch je nach Akkumulationsdynamik, Kräfteverhältnissen, sozialen Konflikten und politischen Blockbildungen. Nur ein wohlfahrtsstaatlich regulierter Kapitalismus, in dem mobilisierte Lohnarbeitsklassen ihre Machtressourcen nutzen, sorgt für rationale, zumindest vertraglich nach dem Prinzip des Äquivalententauschs organisierte Ausbeutung. Hingegen regieren Überausbeutung, Ausschluss und Abwertung immer, wenn die Einhegung primärer Ausbeutung misslingt. Wie sich eine solche Tendenz Bahn bricht, erleben wir seit mehr als drei Jahrzehnten.

Kapitalismus ist permanente Landnahme. Fortwährend muss er sich ein nichtkapitalistisches Anderes einverleiben, das sich als Bereich gesellschaftlicher Exklusion auch immer wieder neu produzieren lässt. Die auf eine Herstellung des Lebens gerichtete »zweite Produktionsweise« - siehe Sylvia Fedrici, Frigga Haug - ist ein solches Anderes. Diese Produktionsweise umfasst alle Tätigkeiten, die - bezahlt oder unbezahlt - eine Herstellung von Arbeitskraft überhaupt erst möglich machen. Selbst in ihren kommodifizierten Bereichen unterscheidet sie sich in ihren Arbeitstätigkeiten grundsätzlich von der industriell-kommerziellen Produktion von Gütern und Dienstleistungen. Klassenverhältnisse durchziehen beide Bereiche. In einem mehrdimensionalen sozialen Raum sind sie ökonomisch-soziale, aber eben auch kulturelle und politische Phänomene.

Rassismus und Geschlechterdiskriminierung lassen sich insofern nicht auf die Konfliktachse »Klasse« reduzieren. Sie werden aber genutzt, um Exklusionsbereiche zu schaffen, die sich das Kapital dann aneignen kann - und deren Abwertung die in ihnen praktizierte Überausbeutung legitimiert. In jüngerer Vergangenheit hat nun eine (finanz)marktgetriebene Landnahme Sozialeigentum enteignet, öffentliche Güter privatisiert und kommerzialisiert, Überausbeutung in prekären Verhältnissen sowie soziale Exklusion gefördert und nicht zuletzt die Reproduktionskosten der Privatwirtschaft durch Abwertung von Sorgearbeiten gesenkt. Diese Landnahme im Sozialen wurde so weit getrieben, dass sie die Selbststabilisierungsmechanismen kapitalistischer Gesellschaften hintertreibt: das Kredit- und Innovationssystem, soziale Sicherungen und die Regulation der Naturverhältnisse. Eine Folge ist, dass sich subalterne Großgruppen in den Kapitalismen des reichen Nordens als Wettbewerbsklassen formieren.

Solidaritäts- oder Wettbewerbsklassen

Den Hauptgrund nennt Didier Eribon: Klassenverhältnisse wirken auch, wenn sie aus dem politischen Diskurs entfernt sind. Sofern dem Alltagsbewusstsein beherrschter Klassen Orientierungen fehlen, in denen sie sich kollektiv mobilisieren können, wirken Klassenverhältnisse im Modus der Konkurrenz, in einer permanenten Scheidung in Gewinner und Verlierer sowie mittels kollektiver Auf- und Abwertungen. Letztere schafft soziale Lagen, die all jene diskriminieren, die sich mit diesen Positionen arrangieren müssen. Dabei spielt der Staat eine wichtige Rolle, weil er in entwickelten Kapitalismen 40 bis 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verteilt: Durch Zuweisung oder Beschneidung von Sozialeigentum nehmen seine Aktivitäten erheblichen Einfluss auf die Klassenstrukturierung. Grenzziehungen, die - wie das Hartz-IV-Regime - mit der Enteignung von Sozialeigentum verbunden sind, bewirken eine Klassenbildung durch kollektive Abwertung und Stigmatisierung sozialer Großgruppen.

Eine Folge finanzkapitalistischer Landnahme ist, dass subalterne Lohnarbeitsklassen im Plural buchstabiert werden müssen. Die Lohnabhängigen und ihre Familien, die noch immer die große Mehrheit ausmachen, bilden mindestens drei Klassen, die sich stark unterscheiden hinsichtlich der Ausbeutungsformen, der Verfügung über Machtressourcen und Sozialeigentum, in ihrer Stellung in Unternehmenshierarchien und gesellschaftlicher Arbeitsteilung sowie den daraus resultierenden Arbeitsmarktschancen.

Akademisch gebildete Lohnabhängige ohne Kontrollmacht bilden die erste, expandierende Lohnarbeitsklasse - auf dem Arbeitsmarkt und im (Re-)Produktionsprozess ist sie von Alltagssorgen um Einkommen und Beschäftigung entlastet. Diese Klasse wird im Zuge der Digitalisierung wohl noch wachsen. Eine zweite Lohnarbeitsklasse bilden Arbeiter und Angestellte mit mittlerer Qualifikation in überwiegend kommandierten Arbeitstätigkeiten. Diese Großgruppe der »Facharbeit« gerät im Finanzmarktkapitalismus in die Defensive, ihre organisatorischen Machtressourcen begrenzen aber Einbußen beim Einkommen sowie der Arbeits- und Lebensqualität. Diese zweite Arbeiterklasse agiert grundsätzlich defensiv: Man verteidigt verbliebenes Sozialeigentum gegen finanzkapitalistische Landnahme »von oben«, aber auch gegen Konkurrenz »von unten«, also aus dem prekären Sektor. Diese Verteidigungshaltung kann in exklusive Solidarität münden. In diesem Fall gesellt sich zur Kritik an »denen da oben« eine auf Ressentiments gestützten Verteidigung gegenüber dem sozialen Unten - ohne dass dies ein unumkehrbares Muster wäre.

Am Ende der Hierarchie steht eine neue Unterklasse, die kaum die Mittel hat, ihre Lage kollektiv zu beeinflussen: prekär und informell Beschäftigte, Langzeiterwerbslose, illegale Migranten, Obdachlose und andere Außenseiter. Sie leben in der Nähe eines Fürsorgestatus, der zugleich die Schwelle gesellschaftlicher Respektabilität absteckt. Der Überlebenshabitus dieser heterogenen Unterklasse unterscheidet sich deutlich vom Kollektivhabitus der Beschäftigten in anderen Lohnarbeitsklassenlagen. »Die ganz unten«, in entwickelten Kapitalismen bis zu 15 Prozent der Bevölkerung, sind kein Lumpenproletariat und auch nicht mit einem auf unsichere Beschäftigung angewiesenen Prekariat identisch. Das Prekariat rekrutiert sich aus unterschiedlichen Klassenfraktionen und bildet einen Exklusionsbereich, der die gesamte Klassenstruktur durchzieht. Die Unterklasse entsteht durch Enteignung von Sozialeigentum Ausschluss und Stigmatisierung. Abgewertet werden sowohl die Klassenlage als auch die zugehörigen städtischen oder ländlichen Quartiere. Offen ist, ob in solchen Lagen überhaupt ein positives, auf kollektive Veränderung gerichtetes Klassenbewusstsein entstehen kann. Sicher ist hingegen, dass die schiere Existenz dieser aus Kapitalperspektive - schon deshalb nur vermeintlich - Überflüssigen als Damoklesschwert die anderen beherrschten Klassen diszipliniert.

Die drei Lohnarbeitsklassen bilden keine Einheit, die sich auf das bloße Faktum der Lohnarbeit gründen könnte. Beschwörungen einer »objektiven« Klasseneinheit haben beständig das Problem, dass die Lohnarbeitsklassen in der Wirklichkeit niemals auf der Höhe ihrer Abhängigkeit agieren, sich häufig nicht gewerkschaftlich organisieren und (in ihren männlichen Teilen) überdurchschnittlich konservativ oder ganz rechts wählen - und all das für »realistischer« halten als organisierten Klassenkampf. Die Einheit verschiedener lohnabhängiger Klassen ist mit Antonio Gramsci besser als sozialer Block zu denken. Das heißt, diese Einheit kann nicht vorausgesetzt werden, sondern muss - unter Berücksichtigung realer Interessenunterschiede - stets aufs Neue politisch ins Werk gesetzt werden.

Das ist nicht spitzfindig, sondern mit dem Horizont einer Mobilisierung von Klassen höchst relevant. Es wäre verheerend, ruhte sich eine politische Linke darauf aus, dass ihr rückläufiger Einfluss in jener zweiten - industriellen, zu erheblichen Teilen noch organisierten - Arbeiterklasse durch Zuwächse aus der ersten, expandierenden »akademisch-urbanen« Lohnarbeitsklasse wettgemacht wird. So gäbe man das Ziel linker Hegemonie und Mehrheitsfähigkeit auf. Zudem zeichnen sich gerade in der Welt industrieller Arbeit entscheidende Großkonflikte ab. Das Wertschöpfungssystem »Automobil« wird wegen der Klimaziele und aus ökologischen wie politischen Gründen (Protektionismus, Chinas Abkehr vom Verbrennungsmotor) unter dramatischen Veränderungsdruck geraten. Das zu erkennen und mit den dort Beschäftigten Alternativen für Produktion und Mobilität zu erarbeiten, ist ein vornehmes Anliegen vorausschauender Klassenpolitik. Sie hat nun aufzuholen, was über viele Jahre verschlafen wurde.

Einheit ist nicht, sondern muss gemacht werden

Wo sind nun Ansatzpunkte einer neu mobilisierten Klassengesellschaft? Es wird ja, auch in Deutschland, durchaus gekämpft. Vor allem kleinere Konflikte nehmen zu, in denen es um basale soziale Rechte geht. Solche Ansätze gibt es immer häufiger auch im prekären Sektor und im Bereich der zweiten, sorgenden Produktionsweise: Mit Erzieherinnen, dem Personal von Kliniken oder aktuell demjenigen der Billigfluglinie Ryanair werden Gruppen in gewerkschaftlichen Kämpfen aktiv, von denen man das noch vor einigen Jahren kaum erwartete. Oft haben die Kämpfenden kaum ökonomische Macht, die Konflikte haben demonstrativen Charakter und ihren Zweck auch in der erprobenden Herstellung von Kampffähigkeit. Für zählbare Erfolge sind diese häufig auf Einzelunternehmen statt auf Branchen zielenden Kämpfe zunehmend auf internationale Vernetzung und vor allem breite gesellschaftliche Resonanz angewiesen. Eine Übersetzung ins Politische gelingt aber kaum.

Der jüngste Tarifkonflikt in der Metallindustrie illustriert das positiv wie negativ. Eine Auseinandersetzung, die 1,5 Millionen mobilisierte, spielte in der politischen, zumal akademischen, Linken fast keine Rolle. Dabei zeigte der Konflikt Ansätze einer »verbindenden Klassenpolitik« (Bernd Riexinger): Die auch für die Gewerkschaftsspitze überraschende Dynamik der 24-stündigen »Powerstreiks« gründete sich auf einer Politisierung von Arbeit und Zeit. Die Forderung nach der Option einer 28-Stunden-Woche (ohne vollen Lohnausgleich) verband die IG Metall mit der Aufwertung anderer Tätigkeiten - Zeit für Pflege und Erziehung, Zeit auch für Muße und Erholung. So wurde etwas praktiziert, was jenseits aller Fragmentierung ein Gemeinsames aller Tätigkeiten im Block der Lohnarbeitsklassen ist: Die Erfahrung nämlich, dass die Zwänge flexibilisierter Erwerbsarbeit sämtlich Arbeitsvermögen okkupieren - von der unbezahlten Sorgearbeit bis zu zweckfreien Tätigkeiten der Freizeit. Heute expandiert die fremdbestimmte Zeit ja selbst dann, wenn formal weniger Erwerbsarbeit geleistet wird. Schon die Ausbalancierung der verschiedenen Lebensbereiche macht immer mehr Arbeit und frisst förmlich Stunden. Diesen »Balanceimperialismus« (Oskar Negt, Alexander Kluge) hat der Kampf um die 28 Stunden als Option zum Thema gemacht. Erste Auswertungen der IG Metall und auch der Eisenbahngewerkschaft zeigen, dass viele mehr Zeit einer höheren Bezahlung vorziehen.

Eine inklusive Klassenpolitik muss derartige Ansätze weiter treiben und politisieren. Längerfristig könnte eine kollektive Arbeitszeitverkürzung auf 32, 30 oder 28 Wochenstunden eine mobilisierende Forderung sein, also eine, die aus drei Lohnarbeitsklassen einen Lohnarbeitsblock zu schmieden hilft. Eine kurze Vollzeit für alle könnte durch eine bedingungslose Grundzeit und Mitbestimmung bei der Personalbemessung ergänzt und erweitert werden. Gemeinsam mit anderen Vorhaben und unter dem Label eines demokratischen Neo- oder Ökosozialismus gebündelt, könnten solche Projekte konkretisieren, was dringend gebraucht weit: eine transformative Klassenpolitik, die auf demokratische Weise polarisiert und so einen Antagonismus erzeugt, der den Block an der Macht wirklich herauszufordern vermag.

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