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»Auf das Leben!«
Chaim Noll zeichnet mit seinen Geschichten ein Bild von Israel
Manche Texte sind ganze Lebensgeschichten, manche handeln von Wundern, viele sind Momentaufnahmen aus dem Alltag. Aber was heißt in Israel schon Alltag? Es gibt dort so viele Konflikte und Probleme, wie es unterschiedliche Menschen aus aller Welt gibt, ins Land gekommen seit der ersten und zweiten Alijah, über die Zeit des Holocaust und danach bis hin zu den russischen und osteuropäischen Einwanderungen nach 1990 bis heute. So lernen wir den unbekümmerten, schlaksigen, blonden Jerusalemer Jungen Shilo kennen, der vier Sprachen spricht, aber keine Muttersprache hat und irgendwann Probleme mit seiner kulturellen Identität bekommen wird. »Kolja«, die Titelgeschichte, handelt von dem 21-jährigen Nikolaj R. Er fiel als Sergeant einer Elite-Einheit in Libanon und wurde zweimal beerdigt: in Krasnodar, der Heimatstadt seiner christlichen Mutter, und auf dem russisch-orthodoxen Friedhof in Jerusalem.
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Chaim Noll: Kolja. Geschichten aus Israel.
Überarb. Neuausgabe, Verbrecher Verlag, 287 S., br., 19 €.
Ein jüdischer Trinkspruch heißt: »Auf das Leben!« Chaim Nolls Erzählungen sind Plädoyers für das Leben, und sie haben, so ausweglos die geschilderten Situationen auch erscheinen mögen, fast alle ein gutes Ende. Unverhoffte Lösungen finden sich oft. Noll wohnt im Süden Israels: »... unser Ort, umgeben von biblischer Landschaft, durchweht von uralten Winden, mit Ausblick auf die Berge von Edom.« Wunderschön muss das sein. Doch ständig droht »Panik« (so der Titel eines Textes), wie sie Natalie, Studentin aus Berlin, angesichts der Selbstmordanschläge auf zwei Busse überwältigt. Viele Geschichten haben die Konflikte zum Thema, die mit Armee-Einsätzen, der Pflicht zur Verteidigung der Heimat und der Entbindung der orthodoxen Juden davon einhergehen. Wie groß diese Konflikte für junge Menschen sein können und dass es vielleicht Lösungen gibt, thematisiert die Erzählung »Der Abtrünnige«.
Existenzbedrohende Grenzprobleme gibt es für Männer wie Osama oder Sharif, tüchtige Handwerker »von drüben«, die täglich die Kontrollposten passieren müssen, mit oder ohne Papiere arbeiten und vielerlei Behinderungen ausgesetzt sind. Von Konflikten aufgeladen ist oft die familiäre Atmosphäre, Israel ist ein junges Land voller junger, moderner Menschen, manche wandern aus, andere kommen, bleiben oder gehen wieder. Die Geschichten der Alten klingen fern und fremd.
»Wer weiß heute noch, denkt Großvater Eli, dass die ersten Jahrzehnte damit vergingen, trockenen, toten Boden aufzureißen.« Der alte Kibbuznik hat sich lebenslang mit »handfesten Dingen« beschäftigt und keine Zeit für religiöse Belange gehabt. Die Enkel leben längst alle in der Stadt, aber dass Eli nun beginnt, den Talmud zu studieren, das finden sie »cool«.
Chaim Noll gibt mit den Erzählungen ein vielfältiges Israel-Bild der 1990er Jahre wider, das heute, glaubt man Medienberichten, schon »historisch« erscheint, aber zumindest Wege für die Lösung von Gegenwarts- und Zukunftsproblemen weisen könnte. Und was sind schon ein paar Jahrzehnte gegenüber der Spanne seit biblischen Zeiten oder der Jahrhunderte, als hier, unweit vom Wohnort des Autors, eine Basilika christlicher Nabatäer stand, deren Bruchstücke ein befreundeter Araber eines Tages Chaim Noll als »Wüstensteine« auf einer großen Karre bringt, damit der seine Gartenwege pflastern kann.
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