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Alternativen zur Ratte
Die Charité eröffnet ein Zentrum, das Tierversuche möglichst reduzieren will. Von Manfred Ronzheimer
Tierversuche, der Einsatz von lebenden Tieren für wissenschaftliche Experimente, stoßen heute auf keine große gesellschaftliche Akzeptanz mehr. Das war früher anders, wie sich der Charité-Vorstandsvorsitzende Karl Max Einhäupl erinnert. «Als ich in den siebziger Jahren in München Medizin studierte, war der Umgang mit Tierversuchen relativ sorglos», blickte er bei der Eröffnung des Zentrums «Charité 3R» zurück. Auch die Frage «was sagt die Gesellschaft dazu», habe keine Rolle gespielt. «Sie sagte nämlich: nichts.»
Die Verhältnisse haben sich inzwischen geändert. Die Sorge um das Wohl von Tieren bringt gesellschaftliche Gruppen in Aktion, vereinzelt sogar militant, Politiker erlassen Gesetze, Tierschutzbücher werden regelmäßig Bestseller, im Ernährungsbereich entstand die Vegan-Bewegung aus Protest gegen die industrielle Massentierhaltung. Und auch die Wissenschaft muss und will sich bewegen. «Mit diesem Zentrum ist etwas entstanden, das lange überfällig war», bekennt Einhäupl freimütig. «Es ist ein Anliegen, das die ganze Charité trägt.»
Nach der amtlichen Versuchstierstatistik, die das Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft erstellt, wurden im Jahr 2014 knapp 2,8 Millionen Tiere in wissenschaftlichen Studien eingesetzt. Ein Drittel davon für die Grundlagenforschung. Gegenüber dem Jahr 2002 ist das ein Anstieg um 36 Prozent – auch ein Indiz für den Boom der Biomedizin, die vor allem gentechnisch veränderte Labormäuse mit speziellen Eigenschaften für ihre Untersuchungen benötigt.
Wissenschaftliche Versuche im eigentlichen Sinne werden an rund zwei Millionen der registrierten Tiere durchgeführt, während knapp 800.000 Tiere getötet werden, um ihnen Zellen, Gewebe oder Organe für wissenschaftliche Zwecke zu entnehmen. Laut Deutschem Tierschutzgesetz »zählt dies nicht als Tierversuch, sofern vorher keine weiteren Eingriffe an den Tieren vorgenommen wurden«, erläutert die Webseite www.tierversuche-verstehen.de, die von deutschen Wissenschaftsorganisationen eingerichtet wurde, um Breitenaufklärung in der Bevölkerung zu betreiben. Unter den rund 2,8 Millionen Versuchstieren für wissenschaftliche Zwecke und Sicherheitsprüfungen dominierten mit 68 Prozent die Tierart der Mäuse, gefolgt von Ratten mit 13 Prozent. Mithin gehören knapp 83 Prozent der Versuchstiere zu den Nagern. Fische machten etwa 10 Prozent aus und Vögel 2 Prozent. 0,04 Prozent der Versuchstiere waren Katzen, 0,1 Prozent Affen und Halbaffen und 0,1 Prozent Hunde. Menschenaffen werden bei Versuchen in Deutschland nicht verwendet.
In Berlin wurden im Jahr 2017 insgesamt 220 424 Tierversuche gemeldet. Das ist deutscher Spitzenwert, der nicht zuletzt in der Politik auf Missbilligung stieß. Über die Abgeordnetenhaus-Fraktion der Grünen, die sich seit Jahren für die Reduzierung von Tierversuchen einsetzen, kam das Ziel, führender Forschungsstandort von Alternativmethoden zu werden, in den rot-rot-grünen Koalitionsvertrag. Die Senatswissenschaftsverwaltung schrieb den Auftrag der Charité in den Hochschulvertrag und sagte zur Finanzierung 8,9 Millionen Euro in den nächsten fünf Jahren zu. Auf dieser Basis konnte jetzt das Zentrum »Charité 3R« aufgebaut werden. MR
Der Name «Charité 3R» geht auf das so genannte 3R-Prinzip zurück, das unter der Kurzformel «Replace - Reduce - Refine» von amerikanischen Wissenschaftlern entwickelt wurde. Ziel des 3R-Prinzip ist es, Tierversuche zu ersetzen (Replace), die Anzahl der Versuchstiere zu reduzieren (Reduce) oder die Belastung für Versuchstiere zu mindern (Refine). Die Absicht ist, die größtmögliche Wirksamkeit bei der Entwicklung von Therapien mit einem Maximum an Tierschutz zu verbinden.
Dabei sollen mehr denn je technische Innovationen zum Einsatz kommen. Dazu zählen, wie Axel Radlach Pries, Dekan der Charité und Vordenker der Initiative, erklärte, der Einsatz von Zellexperimenten für die Entwicklung von Krankheitsmodellen. Dies soll unter anderem durch die Forschung an Organoiden, Multi-Organ-Chips und multidimensionalen Bildgebungsverfahren geschehen. «›Charité 3R» wird die vielen existierenden innovativen Ansätze und Initiativen bündeln, mit Hilfe von Fördermitteln unterstützen und die Suche nach neuen Methoden gemeinsam mit den Berliner Universitäten und außeruniversitären Partnern energisch vorantreiben«, erklärte Radlach Pries.
Steffen Krach, Staatssekretär für Wissenschaft und Forschung des Landes Berlin, unterstrich bei der Eröffnungsveranstaltung im alten Anatomie-Saal der Charité das Interesse des Senats, »den Tierschutz zu stärken und Tierversuche in der medizinischen Forschung so schnell und so weit wie möglich verzichtbar zu machen«. Hierzu gebe es noch weitere Initiativen, etwa indem die Kompetenzen von Charité, Universitäten und Forschungseinrichtungen weiter gebündelt werden. »Der kürzlich bewilligte Forschungsbau ›Der Simulierte Mensch‹ von Charité und Technischer Universität ist der nächste große Schritt in diese Richtung«, kündigte Krach an. So stelle das Land Berlin in den kommenden Jahren bereits gut 25 Mil᠆lionen Euro für die Erforschung und Entwicklung von Alternativen zu Tierversuchen zur Verfügung.
Während die Politik mehr einem gesellschaftlichen Erwartungsdruck, anders mit Tieren umzugehen, folgte und diesen in den wissenschaftlichen Raum hineingab, haben die Forscher selbst noch einen eigenen Antrieb, nach neuen Wegen im Tierexperiment zu suchen. Charité-Chef Einhäupl verdeutlichte dies bei der Eröffnung mit dem Hinweis, dass lediglich 20 Prozent der wissenschaftlichen Untersuchungen mit Einsatz von Labortieren auch später noch einmal wiederholt werden können. Woran das liegt und wie die Reproduzierbarkeit von Forschung gesteigert werden kann, ist daher auch zentrale Fragestellung von »Charité 3R«.
Für Stefan Hippenstiel, den Sprecher von »Charité 3R« sind Tierversuche »in der biomedizinischen Grundlagenforschung und in der angewandten klinischen Forschung derzeit noch unvermeidbar, insbesondere dann, wenn es um das komplexe Zusammenspiel zwischen Zellen und Organen in lebenden Systemen geht«. Allerdings gelte es, die Aussagekraft der Versuche zu steigern und andererseits Alternativmethoden zu fördern. »Unsere Vision ist es, mit ›Charité 3R‹ einen Ort der Innovation und Vernetzung zu schaffen«, erklärte Hippenstiel. Das Zentrum wolle junge Forscher anziehen und es ihnen ermöglichen, im Umfeld der Charité ihre Ideen zu erproben. Hier trifft medizinische Innovation auf die Chancen der Gründerhauptstadt Berlin.
Seine Tätigkeit gliedert das Zentrum in die drei Säulen Forschung, Ausbildung und Support und Öffentlichkeitsarbeit. »Die Forschungssäule stellt gezielt Fördergelder sowohl für die Entwicklung von Alternativmethoden zum Tierversuch als auch für Maßnahmen zur Verbesserung des Tierwohls bei Tierversuchen zur Verfügung«, erläutert Sprecher Hippenstiel. In der Säule Ausbildung und Support sollen Maßnahmen für eine vertiefte Ausbildung im 3R-Bereich für Nachwuchs-Forscher unterstützt werden. »Hier ist das Ziel, immer das erfolgversprechendste Modell für die zu untersuchende Fragestellung zu finden, um die Übertragbarkeit auf den Menschen und den klinischen Nutzen zu maximieren«. Schließlich soll über die dritte Säule Öffentlichkeitsarbeit mit Fördereinrichtungen, Politik, wissenschaftlichen Einrichtungen und der allgemeinen Öffentlichkeit »eine breite Debatte über das Thema Tierversuche und Alternativen« initiiert werden.
Welche neuen Chancen sich gerade im Bereich der Forschung eröffnen, belegten die beiden Preisträger des Ursula-M.-Händel-Tierschutzpreises der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), dessen siebte Verleihung in die Zentrumseröffnung der Charité integriert war. Die Toxikologin Ellen Fritsche von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf erhielt die mit 50 000 Euro dotierte Auszeichnung für die Entwicklung eines Testsystems für Chemikalienwirkungen, das die eigentlich bei toxikologischen Tests vorgeschriebenen Tierversuche in Zukunft möglicherweise vollständig ersetzen kann. Der Medizinmathematiker Hamid Reza Noori vom Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen überzeugte mit seinem Einsatz von Big Data in der Neurobiologie, wodurch sich Tierversuche deutlich reduzieren lassen. Noori stellte die Daten von Versuchen mit fast 150 000 Ratten in zwei Open-Access-Datenbanken zur Verfügung, die von Forschern weltweit genutzt werden können, um neurologische Forschungsfragen zu bearbeiten. »Die Datenbanken helfen dabei, Fragestellungen in silico, also durch Computeranalyse bereits vorliegender Datensätze, zu beantworten, oder neue Versuche stringenter zu planen«, erklärte der Tübinger Preisträger. Insgesamt berge die Nutzung von Big Data im Bereich der präklinischen Neurowissenschaften großes Potenzial für den Tierschutz in der Forschung.
Hier könnten sich in Berlin sogar Kreise schließen. Denn unter Rechenexperten gilt die deutsche Metropole längst als »Welthauptstadt der Mathematik«.
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