Da muss noch etwas kommen

Christof Meueler über den Zwang, Nachtisch zu verlangen

Das Leben ist ein Imbiss, aber nur zur Mittagspause. Man hat keine Zeit und trotzdem ist es fad. Das schnelle, unkonzentrierte Essen im Gehen oder im Stehen. Man kann die Mittagspause auch absitzen wie eine Strafe; dafür, dass man es gewagt hat, eine Kantine zu betreten.

Essen fassen sagen sie beim Militär. Das trifft es ganz gut. Bratwurst fassen. Oder Käsestange, Döner, Chinabox. Anschließend braucht man garantiert etwas Süßes. Als Trost für das freudlos erreichte Sattsein. Wenn man in der überzuckerten Gesellschaft das Gefühl bekommt, unterzuckert zu sein. Ein Nachtisch muss her, sofort.

Wo ein Imbiss ist, gibt es auch Brownies, Marzipan-Croissants, Frozen Yoghurts, Cookies und die ganzen Schokoriegel. Angeblich sind das die kleinen Freuden. Würde man sich auf den Geschmack konzentrieren, wäre er enttäuschend. Wie die allgemeine Frustration der Berufstätigen, »dass morgen schon wieder gestern weitergeht« (Adorno). Die Versüßung der Mittagspause ist nicht die Verfeinerung des Konsums, die der Kapitalismus unentwegt forciert, das ist die Verdumpfung. Das einzige Surplus dabei ist das schlechte Gewissen wegen den Kalorien. Vor der Verdumpfung warnen Kulturphilosophen schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts, als es mit der Massenkultur losging - interessanterweise auch mit der Produktion von Schokoriegeln.

Manche Leute stecken auch eine Mini-Kerze in einen Muffin und behaupten, das sei ein kleiner Kuchen. Wie früher in der TV-Werbung für »Yes-Törtchen«. Zugegeben, das ist ironisch gemeint. Doch es gibt keinen ironischen Geschmack. Höchstens einen Fake-Nachtisch als Karikatur des Desserts beim Abendessen im Restaurant oder bei Freunden.

Der feierliche Nachtisch ist meistens der Teil eines Menüs, an den man sich am besten erinnern kann. Viele fürchten ja Speisen, die sie nicht kennen, doch ein Nachtisch, der soll originell sein. Mit Pudding, roter Grütze oder Vanille-Eis mit heißen Himbeeren kann man heute niemandem mehr kommen. Eindrucksvoller ist eine Creme mit Orangengelee oder ein Rhabarber-Ragout. Wenn schon Erdbeereis, dann mit frischer Minze und einer selbst gemachten Fruchtsauce.

Da muss noch etwas kommen - das ist der Grundsatz des Kapitalismus. Zum Beispiel ein Nachtisch, den man merkt. Wenn das nicht klappt, hat der Kapitalismus ein Problem mehr. Dann wird dieser Spruch politisch. Oder man isst einfach einen Apfel.

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -