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»Wir irren des Nachts im Kreis umher«

Thomas Weber über anwesende und abwesende Klänge und das Glück, sich selbst zu vergessen

  • Jasper Nicolaisen
  • Lesedauer: 5 Min.

Eure neue Platte wirkt schwer mit Bedeutung aufgeladen. Die Stücke haben sprechende und beziehungsreiche Titel. Andererseits lässt die Musik mich mit direkten Aussagen völlig in Ruhe und mäandert eigengesetzlich zwischen Geräusch und Ordnung. Also: Konzeptalbum oder Assoziationsraum?

Es ist vielleicht beides. Es ist bedacht unbedacht. Das heißt: Es gibt ein Konzept, und am Ende des Tages sind wir sehr glücklich, wenn das Album einen Assoziationsraum aufreißt und eine Kette von neuen Vernetzungen entsteht. Auf der neuen Platte sind es die wiederkehrenden Themen und Motive, die ein zusammenhängendes, organisches Ganzes entstehen lassen. Alles ist im gleichen sehr guten Studio aufgenommen, mit geilen Mikrofonen, als Grundlage immer das Gerüst von Harmonium, Bass und Gitarre. Diese über mehrere Monate entstandenen Aufnahmen habe ich dann die letzen drei Jahre bearbeitet, gemischt, verworfen und neu zusammengesetzt. Anstatt eines klassischen Konzeptalbums ist es vielleicht eher ein Bewusstseinsstrom, der auf ein Leben zwischen Musik, Büchern und Filmen rekurriert. »Our life in the bush of ghosts« in der oberrheinischen Tiefebene.

Kammerflimmer Kollektief

Seit fast 20 Jahren musiziert das Kammerflimmer Kollektief aus Karlsruhe wie niemand sonst auf der Welt. Improvisierter Krach zwischen Free Jazz, Ambient, Pop und Neuer Musik, aus dem die allerschönsten Melodien und Klänge entstehen und wieder vergehen, prägt auch das neue Album, dessen Titel lautet: »There are actions which we have neglected and which never cease to call us« (Bureau B). Jasper Nicolaisen hat mit Bandgründer Thomas Weber (rechts im Bild) fernmaschinell gesprochen.

Ihr seid ja ein »Kollektief« und nicht etwa eine Band oder ein Ensemble. Wie sieht der Arbeitsprozess aus?

Eigentlich gibt es zwei Situationen, einerseits das Konzert, die Jam-Gebete, die Live-Situation, wo wir vor allem mit dem Holz (Kontrabass, Harmonium, Gitarre) kämpfen, also: Gruppendynamik, Improvisation, Aktion. Andererseits gibt es die Studioarbeit: Dort ist die Improvisation zwar der Ausgangspunkt, das bedeutet, wir irren des Nachts im Kreis umher, werden vom Feuer verschlungen und nehmen live eine Vielzahl von Takes auf, die später dann nachbearbeitet werden.

Es ist gut, wenn man hören kann, wie im Kollektiv gespielt und kommuniziert wird, aber es ist noch besser, wenn man hören kann, wie zugehört wird. Zuhören heißt auch improvisieren: vielschichtige Signale untersuchen, filtern, spontan Prioritäten setzen, bewerten, platzieren, vergleichen, auch verwerfen und neu anfangen, und Gefallen finden an präsenten und absenten Klängen. Ein bisschen ist es wie in dem John-Cage-Zitat: Am Anfang brummt einem alles Mögliche durch den Kopf, Menschen, Erinnerungen, Verbindungen, Bilder, Texte, andere Stücke und was weiß ich alles, und nach und nach wird alles lichter, und am Ende ist fast gar nichts mehr da, und wer Glück hat, vergisst sich dann sogar selbst.

Eure Musik lässt sich keiner bestimmten Richtung zuordnen. Gibt es eine Szene oder einen musikalischen Ort, dem ihr euch zugehörig fühlt?

»No man is an island«, sang Dennis Brown. Zusammenhänge sind wichtig und musikalische Kontexte auch. Noch besser sind unterirdische Verbindungen und unabhängig von Szenen und Genres zu agieren. Es hängt ja doch alles mit allem zusammen. Wir tun, was wir können, für das, was wir für richtig halten. Wie verschiedene Musikrichtungen zusammengeführt werden können, habe ich das erste Mal bei Velvet Underground gehört: Wo sonst gibt es gleichzeitig La-Monte-Young-Drones, von Bo Diddley geprägtes Schlagzeug, Blues-Licks, klassisches Songwriting und brutalsten Noise? Später dann - ganz anders, aber irgendwie genauso manisch und euphorisiert - gab es Jeffrey Lee Pierce und den Gun Club. Er war es, der mir in den 80ern mit seinen Platten erklärte, wie man das macht: Punkrock, Free Jazz und Country intuitiv und mindblowing zusammenzubringen. Das Gute am Gun Club war ja, dass Pierce diese ganzen Einflüsse nicht adaptiert, sondern transformiert hat, zu diesem hysterischen, naturtrüben Geheul mit dieser irren Tightness; das hat mich sehr beeindruckt und auch geprägt.

Obwohl ihr weitgehend auf Gesang verzichtet, spielt das Wort für eure Arbeit anscheinend eine große Rolle. Ich denke an die Zusammenarbeit mit Autoren wie diesmal Ulf Stolterfoht oder früher Dietmar Dath. Wie ist das Verhältnis zwischen Klang und Wort bei euch?

Die Musik spricht und die Texte klingen, und manchmal ist es auch umgekehrt. Ulf Stolterfoht habe ich zufällig persönlich kennengelernt. Ich schätze ihn als Euphorieexperten, er sagt: »Plan- und Pflichterfüllung sind schlechte Euphorieproduzenten.« Das mit der Planerfüllung ist ein wichtiger Punkt: Wir können keine Platten planen. Sie sind fertig, wenn sie fertig sind. Alles muss gut abgehangen sein. Komplex gewachsene Arrangements, Strukturen und Formen brauchen Zeit. Ähnlich wie bei Stolterfoht ist das Endprodukt eine Collage. Und da hat es eine große Wichtigkeit, dass bestimmte Dinge klar sind und bestimmte Dinge unklar sind. Durch das Nichtbeschreiben oder Nichtbesingen oder Auslassen einer sprachlichen Textur entsteht assoziativer Freiraum, der es uns ermöglicht, auf den restlichen instrumentalen Kosmos einzugehen.

Ihr habt starke Bilder und Videos, begleitend zur Musik. Welchen Stellenwert hat das Multimediale für euch?

Wenn ich »Multimedia« höre, wird mir immer gleich schwindelig. Aber: Ja. Das Visuelle wie auch die begleitenden Texte sind ein wichtiger Teil des Ganzen. Ein Beispiel: Das Video zu »Action 1: Lucid, Imperial Beach«, dem Opener der neuen Platte, ist von Bernd Schoch, er hat schon einige Videos mit uns zusammen gemacht, er ist eigentlich Dokumentarfilmer. Es sind in Indonesien gedrehte Strandbilder, einen Tag vor einer totalen Sonnenfinsternis. Es sind zwei mal ca. 1,5 Minuten, die auf die 8 Minuten »gedehnt« wurden, indem das immer gleiche Bild zehnfach vergrößert an einer anderen Stelle angesetzt wurde. Durch die Vergrößerung entsteht ein Bildrauschen, das dem Rauschen der Musik nahe stehen könnte.

Ich finde es schön, wie viele interessante Geräusche es in eurer Musik gibt. Trotzdem ist sie sehr handgemacht. Ich sage »trotzdem«, weil mir das heute fast schon als Gegensatz erscheint. Reizen euch elektronische Geräusche weniger? Nutzt ihr viel Nachbearbeitung und Verfremdung mit Studiotechnik? Woher dieser Hang zum Handgemachten?

Das Kammerflimmer Kollektief startete vor über 20 Jahren als One-Man-Show. Ohne viel Handgemachtes und Eingespieltes. Über die Jahre habe ich dann, ohne zu suchen, die richtigen Menschen gefunden. Und die Musik morphte vom Gesampelten zum Gespielten.

Die Geräusche auf der neuen Platte sind dann auch größtenteils handgemacht, erzeugt mit einem Instrument. Meistens sind es erweiterte Spieltechniken, eine fünfte Saite auf dem Kontrabass, eine hängengebliebene Taste oder eine kaputte Zunge beim Harmonium; ein brummender Verstärker oder ein Sinus-Generator mit einer defekten Röhre, die sehr interessant und ungewöhnlich klingen.

Was für Zuhörer wünscht ihr euch?

Euphorisierte Zuhörer! Die Platten kaufen! We have no house, only a shadow. But whenever you are in need of a shadow, our shadow is yours.

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