Literat

Der 33-jährige, mit Journalistenpreisen überhäufte Claas Relotius ist gar kein Journalist, er ist vielmehr Romancier

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 2 Min.

Sucht man nach Bildern von Claas Relotius, findet man vor allem solche, die ihn mit einer Preisurkunde in der Hand zeigen. Nun stellt sich heraus: Der 33-jährige, mit Journalistenpreisen überhäufte Hamburger ist gar kein Journalist, er ist vielmehr Literat. Einer, der sich als Romancier möglicherweise einen Namen machen könnte. Relotius hat über Jahre Reportagen frei erfunden, hat vorgegeben, mit Menschen gesprochen zu haben, zu denen er nie Kontakt hatte, hat Protagonisten erdacht und sich auf Quellen berufen, die es nicht gab. Kurzum: Er hat Kurzgeschichten geschrieben, und zwar solche mit einem Hang zum Kitsch, aber immerhin - der Spannungsbogen funktionierte immer.

Öffentlich gemacht hat diesen Skandal sein Arbeitgeber, das Magazin »Spiegel«. Am Mittwoch äußerte sich das Blatt in einem Text von epischer Länge, dramatisch arrangiert, stilistisch ganz so wie eine der Geschichten, die Relotius selbst schrieb. Der junge Mann, der eigenen Angaben zufolge in Bremen und Valencia Politik- und Kulturwissenschaften studiert sowie ein Masterstudium an der Hamburg Media School absolviert hat, hatte als Freiberufler zudem auch für andere namhafte Blätter wie »FAZ«, »Neue Zürcher«, »Welt« und »Zeit« geschrieben. Bei der »taz« war Relotius vor zehn Jahren Praktikant.

Es gibt ein Interview mit dem Magazin »Reportagen«, in dem Relotius über eine Recherche in einem US-Gefängnis spricht, über Dinge, die er dort erlebte, Gefühle, die er dabei hatte. Was an dem Gesagten wahr ist und was Fiktion - wer weiß. Und ob auch jene Reportage über demente verurteilte Mörder erdacht ist, muss noch geprüft werden. In dem Interview gibt es jedenfalls eine Stelle, an der Relotius erzählt, im Gespräch mit einem Häftling habe dieser geweint - zum ersten Mal seit zehn Jahren, wie die angeblich anwesende Gefängnispsychologin dem »Reporter« versicherte. Hier blitzt, möglicherweise, etwas durch von dem Größenwahn, unter dem Relotius leiden muss. Dass er tatsächlich litt, damit hat der »Spiegel« ihn nun zitiert. Er sei krank, soll Relotius gesagt haben. Und dass er sich Hilfe suchen müsse.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -