Jeder Mensch muss untergebracht werden

Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach will Obdachlose bald statistisch erfassen, um sie besser versorgen zu können

  • Marie Frank und Martin Kröger
  • Lesedauer: 9 Min.

Weihnachten ist vorbei, die zur besinnlichen Jahreszeit währende Großzügigkeit geht zu Ende. Werden es die Obdachlosen in Berlin in den kommenden Monaten besonders schwer haben?

Ich finde, dass es die Obdachlosen 365 Tage im Jahr schwer haben. Im Winter fällt es mehr auf. Deshalb gibt es ja auch die Kältehilfe, ein ganz niedrigschwelliges Angebot, das verhindern soll, dass Menschen auf der Straße erfrieren. Es gibt im Bereich der Wohnungslosenhilfe noch sehr viele andere Angebote, meist wird aber nur über die Kältehilfe diskutiert. Das ist einerseits gut, weil es viel Solidarität gibt, andererseits geraten dadurch die anderen Hilfen schnell aus dem Blickfeld.

Zur Person
Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linkspartei) ist auch für die Unterbringung von Wohnungs- und Obdachlosen in der Hauptstadt zuständig. Wie viele Menschen tatsächlich auf den Berliner Straßen leben, will Breitenbach im nächsten Jahr mit einer Befragung erfassen lassen, um die Menschen in Zukunft besser versorgen zu können. Über die Kältehilfe, innovative Hilfsprojekte und die Datenerhebung sprachen mit der 57-jährigen Breitenbach für »nd« Marie Frank und Martin Kröger.

In den vergangenen Wochen schlug Ihnen beim Thema Obdachlosigkeit viel Kritik entgegen, etwa in der Debatte zu den Kältebahnhöfen. Fanden Sie das gerechtfertigt?

Ich verstehe die Kritik nach wie vor nicht. Wir haben dieses Jahr mehr als 1000 Plätze in der Kältehilfe, sie sind nicht ganz ausgelastet. Sollten die Plätze nicht reichen, würden wir weiter aufstocken. Aber es gibt Menschen in dieser Stadt, die aus den unterschiedlichsten Gründen die Einrichtungen der Kältehilfe nicht aufsuchen. Deshalb brauchen wir die Kältebahnhöfe. Nachdem die BVG sie erst nicht mehr öffnen wollte und wir um die Offenhaltung gekämpft haben, werden diese beiden Bahnhöfe nun kritisiert.

Zu Unrecht?

Natürlich ist dies das unterste Netz. Keiner will Menschen in Bahnhöfen unterbringen. Aber für diejenigen, die nicht in der Kältehilfe ankommen, brauchen wir Orte, in denen sie sich ausruhen und aufwärmen können. Deshalb haben wir um die Kältebahnhöfe gekämpft und uns für Sozialarbeiter stark gemacht. Auch Toiletten gibt es jetzt. Wir wollen darüber hinaus dort auch Warte- und Wärmehallen errichten, um die Leute aus den Bahnhöfen rauszukriegen. Da brauchen wir aber erst Genehmigungen. Auch der Kältebus fährt an den Bahnhöfen regelmäßig vorbei. Das läuft richtig gut, relativ viele gehen dann beim zweiten oder dritten Mal in die Einrichtungen der Kältehilfe.

Kam die Entscheidung der BVG für Sie überraschend?

Es war klar, dass es Probleme gibt, unter anderem hygienische. Wir haben aber bereits 2017 gesagt, dass wir Toiletten aufstellen werden. Dass die Kältebahnhöfe geschlossen werden, habe ich erst parallel zur Presse erfahren. Wir reden hier allerdings über einen Landesbetrieb, der viel Geld von diesem Land bekommt. So ein Betrieb muss auch soziale Verantwortung übernehmen.

Oft wird kritisiert, dass die Menschen nicht in leerstehenden Flüchtlingsheimen untergebracht werden. Warum eigentlich nicht?

Das ist nicht möglich. Die Flüchtlingsunterkünfte, die leer stehen, befinden sich in europaweiten Ausschreibungsverfahren oder sind noch nicht fertiggestellt. Diese Ausschreibungsverfahren sind sehr langwierig, auch mir dauert das zu lange, aber wir können es nicht ändern. Außerdem sind viele dieser Unterkünfte nach Flüchtlingsbaurecht gebaut.

Das heißt?

Nach diesem Sonderbaurecht können Flüchtlingsunterkünfte schneller und einfacher gebaut werden. Man braucht beispielsweise keinen Bebauungsplan oder kann im Gewerbegebiet bauen. Die ersten drei Jahre dürfen jedoch nur geflüchtete Menschen dort leben. Schon jetzt sind viele allerdings bereits gemischt belegt. Viele der Geflüchteten, die noch in den Unterkünften leben, sind lange anerkannt und haben ein Aufenthaltsstatus. Das sind die sogenannten Statusgewandelten. Sie können in Wohnungen und für ihre Unterbringung sind die Bezirke zuständig. Da sie aber nicht ausreichend Unterbringungsmöglichkeiten haben, bleiben die Menschen in den Unterkünften, sonst würde Obdachlosigkeit drohen.

Wie viele Menschen betrifft das in Berlin?

Rund 11.000 statusgewandelte Menschen leben zurzeit in Gemeinschaftsunterkünften des Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten. Die ersten Tempohomes werden bald abgebaut, weil die Laufzeit von drei Jahren um ist. Wir prüfen gerade, welche davon länger stehenbleiben können. Das betrifft aber nur wenige, da andere Planungen bestehen, zum Beispiel Schul- oder Wohnungsbau. Wir prüfen, ob wir diese dann freigezogenen Tempohomes zukünftig auch für die Kältehilfe nutzen können.

Einige Obdachlose wollen nicht in die Einrichtungen der Kältehilfe, andere können nicht, etwa weil sie drogen- oder alkoholabhängig sind oder Hunde haben. Gibt es für diese Menschen spezielle Angebote?

Ja. Es gibt auch Einrichtungen mit Zimmern für Menschen und Hunde. Das ist aber nur begrenzt möglich. Viele halten es auch nicht in Räumen mit vielen anderen aus. In den Einrichtungen der Kältehilfe wird jeder aufgenommen, aber es gibt ein Drogenverbot.

Was ja für viele ein Hindernis ist.

Genau. Aber es wird keine Kältehilfeeinrichtung geben, wo Drogen- oder Alkoholkonsum erlaubt werden kann. Ich glaube, das bekommt man nicht in den Griff.

Schätzungen gehen von bis zu 10.000 Obdachlosen in Berlin aus. Wird es bald ein Register geben, um die genaue Zahl herauszufinden?

Wir arbeiten an einer Statistik. Es wird einen Stichtag geben, an dem die Menschen gezählt oder befragt werden. Wir müssen noch prüfen, was da datenschutzrechtlich möglich ist. Das werden wir dann regelmäßig machen und dann wissen wir, wie viele Menschen wirklich auf der Straße leben.

Wie soll das genau ablaufen?

Die Stadt wird quasi in kleine Kästchen eingeteilt und die Menschen, die auf der Straße leben, werden aufgesucht und befragt. Je nachdem, was wir fragen können, wissen wir dann: Mann oder Frau? Wo kommen sie her? Wie ist ihr Aufenthaltsstatus? Wie lange leben sie auf der Straße? Möglicherweise kann man noch andere Dinge erfragen, so dass wir dann eine stabile Datenbasis haben.

Bis wann soll es das geben?

Wir wollen die erste Befragung im nächsten Jahr durchführen. Es gibt im Rahmen der Strategiekonferenz eine Arbeitsgruppe. Diese AG bereitet die Befragung vor.

Wozu sind die Daten gut?

Noch weiß niemand, wie viele Menschen wirklich auf der Straße leben, woher sie kommen und welche Ansprüche auf Hilfen sie haben. Wir haben ein breites Netz von Hilfsangeboten, aber nicht immer kommen sie dort an, wo sie nötig sind. Jeder Mensch, der untergebracht werden will, muss auch untergebracht werden. Das Bezirksamt muss den Hilfesuchenden nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz dann auch unterbringen. Das ist nicht immer einfach. Zur Not muss derjenige im Hostel oder - wenn es gar keinen Platz gibt - auch im Luxushotel untergebracht werden. Menschen brauchen ein Dach über dem Kopf, egal woher sie kommen. Ihr Leben und ihre Gesundheit müssen geschützt werden.

Theoretisch. Und praktisch?

Praktisch wird geguckt, welche Leistungsansprüche diese Menschen haben. Haben sie einen Anspruch, werden sie untergebracht. Bei Menschen aus anderen europäischen Ländern heißt es immer, die haben gar keinen Anspruch. So einfach ist das aber nicht. Wer gearbeitet hat, hat in der Regel einen Anspruch, darunter viele Opfer von Arbeitsausbeutung. Diejenigen, die keinen Anspruch haben, können nicht dauerhaft untergebracht werden. Das Problem kann nur über gesetzliche Änderungen auf Bundesebene gelöst werden. Wir haben das Recht auf Freizügigkeit, das aber niemals ausgestaltet wurde. Die Menschen kommen hierher, scheitern und landen auf der Straße. Und wir haben kaum Möglichkeiten, ihnen nachhaltig zu helfen und hier eine Perspektive zu bieten.

Seit einigen Monaten sind ja zwei polnische Sozialarbeiter in Berlin unterwegs. Gibt es da schon erste Erfahrungen?

Die polnischen Sozialarbeiter haben den Vorteil, dass sie die polnischen Obdachlosen in ihrer Muttersprache ansprechen können - viele können kein Deutsch. Ich erwarte aber, wenn sie auf Leute stoßen, die Opfer von Arbeitsausbeutung wurden, dass sie die auch an die entsprechenden Beratungsstellen vermitteln. Für Menschen, die hier keinen Anspruch auf Leistungen haben, kann es tatsächlich eine Variante sein, wenn gesagt wird: Wir begleiten euch zurück und ihr kriegt dort erst mal Hilfe und Unterstützung. Die ersten Menschen sind jetzt auch über den Verein Barka wieder nach Hause gegangen.

Sie haben das Projekt »Housing First« eingeführt, bei dem an Obdachlose bedingungslos Wohnungen vergeben werden. Gibt es Pläne, das auszuweiten?

Wir sind alle sehr glücklich, dass das so gut angelaufen ist. Das Projekt wird evaluiert und wenn sich bewahrheitet, was übrigens auch die Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, dass die Menschen über diesen Weg den Schritt in ein anderes Leben packen und weg von der Straße kommen, dann möchten wir das natürlich auch ausweiten.

Ein anderes großes Problem ist die Wohnungslosigkeit. Was gibt es in dem Bereich für Lösungsansätze?

Für uns ist die Prävention zentral wichtig. Menschen sollen ihre Wohnungen gar nicht erst verlieren. Dafür arbeiten wir eng mit unterschiedlichen Akteuren zusammen. Wir müssen prüfen, wie man das Hilfenetz engmaschiger knüpfen kann: durch mehr aufsuchende Arbeit und rechtzeitige Hilfe in den Bezirken. Wir wollen auch gemeinsam mit dem Justizsenator prüfen, welche Möglichkeiten es gibt, um Räumungen von besonders Schutzbedürftigen wie etwa Familien mit Kindern, Menschen mit Behinderung oder chronisch Kranken gar nicht erst zu vollziehen.

Gibt es schon Ergebnisse der beiden Strategiekonferenzen?

Ja. Wir werden jetzt auf deren Grundlage Leitlinien der Wohnungslosenhilfe und Wohnungslosenpolitik erarbeiten. Der erste Entwurf liegt schon vor.

Und was steht da drin?

Zum Beispiel ist die gesamtstädtische Steuerung ein großes Projekt bei der Unterbringung von Wohnungslosen. Wir möchten nach und nach erfassen, wo es in dieser Stadt welche Unterkünfte gibt und Mindeststandards definieren. Da herrscht zurzeit in den Bezirken ziemlicher Wildwuchs. Wenn die Standards genügen, möchten wir zu diesen Unterkünften Verträge abschließen. Am Ende können wir die Plätze dann je nach Bedarf verteilen. Wir brauchen beispielsweise mehr Unterkünfte für Frauen. Und auch mehr barrierefreie für Obdachlose mit Behinderung.

Rot-Rot-Grün regiert über zwei Jahre. Wo steht die Hauptstadt beim Thema Obdachlosigkeit am Ende der Legislatur, was meinen Sie?

Ich bin mir sicher, dass wir in drei Jahren mit der gesamtstädtischen Steuerung soweit sind, dass sie technisch funktioniert und wir die ersten Unterkünfte in der Datenbank haben. Die Kältehilfe werden wir weiterentwickelt haben. Außerdem werden wir jedes Jahr eine Strategiekonferenz durchführen. Es gibt hier eine sehr engagierte Stadtgesellschaft, da machen sehr viele mit. Die Koordinierung und Kooperation mit den Bezirken läuft jetzt schon viel besser. Wohnungs- und Obdachlosigkeit wird es aber in dieser Stadt - wie in jeder großen Metropole - immer geben. Und wir werden, was die gesundheitliche Versorgung, was bezahlbaren Wohnraum für Familien und eine bedarfsgerechte Unterbringung angeht, einen ganzen Schritt weiter sein.

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