Geschichten von gemeinsamen Niederlagen und Kämpfen

In seinem Buch zur neuen Klassenpolitik spiegelt sich auch die politische Biografie von Linksparteichef Bernd Riexinger wider

  • Mario Candeias
  • Lesedauer: 4 Min.

»Während ich aus einem Arbeiterhaushalt komme und fast mein ganzes erwachsenes Leben inmitten der Auseinandersetzungen der realen Arbeiter*innenklasse verbracht habe, wird mir nun im Feuilleton diverser Zeitungen vorgeworfen, die Arbeiterklasse … zu vernachlässigen«, wundert sich Bernd Riexinger. Dies gehört zu den Absurditäten der gegenwärtigen Debatte um Klassen.

Dabei ist schon unklar, wie die Arbeiterklasse heute eigentlich aussieht. Riexinger betont, eine Klassenanalyse dürfe nicht »die Vielgestaltigkeit des ›gesellschaftlichen Gesamtarbeiters‹«, die Veränderungen der Klasse, die Analyse »internationaler oder geschlechtlicher Arbeitsteilung« außen vor lassen, kein »monolithisches« oder reduktionistisches Bild der Arbeiterklasse zeichnen. Ausführlich belegt der LINKE-Vorsitzende die Veränderungen von Produktions- und Arbeitsverhältnissen. »Wer vor dem Neoliberalismus an Klassenkampf dachte, hatte eher Stahl- und Industriearbeiter vor Augen.« Heute habe sich der Ort der avanciertesten Kämpfe verschoben: »Die Streikbewegungen folgen der veränderten Zusammensetzung der Arbeiter*innenklasse. Sie verschieben sich in den Dienstleistungssektor, erfassen nach und nach Branchen, die neu entstanden oder stark gewachsen sind, ihre Akteure werden weiblicher und migrantischer. Sie widerlegen, dass sich klassische Büroangestellte oder prekär Beschäftigte nicht organisieren und kämpfen können.«

In gewisser Weise ist diese Umwälzung im »Bauch der Produktionsweise« in Bernd Riexingers politische Biografie eingeschrieben. Entsprechend sind überall Erfahrungen eingeflochten, Geschichten von Einzelnen und von gemeinsamen Kämpfen, von Niederlagen und Siegen. Keine Anekdoten, sondern wichtige Ausgangspunkte für Analyse und strategische Reflexion aus der Mitte der Organisierung der realen Auseinandersetzungen. Detailliert werden Streikstrategien in unterschiedlichen Branchen nachgezeichnet.

Den roten Faden bildet im Buch die Frage, wie gewerkschaftliche Organisierung demokratisiert werden kann. In seiner Zeit als Geschäftsführer des ver.di-Bezirks Stuttgart hat Riexinger hierfür mit den Kolleg*innen beispielhafte Praktiken entwickelt. Um nicht missverstanden zu werden, schickt Riexinger voraus: »Arbeitskämpfe sind sicher nicht der alleinige Ausdruck von Klassenauseinandersetzungen, aber doch ein wichtiger.« Denn »die fortschrittlichsten Teile der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung haben immer das gesamte Leben in den Blick genommen … Ob die Wohnung bezahlbar ist, ob es eine schnelle U-Bahn-Verbindung zur Arbeit oder einen Bus vom Land in die Stadt gibt, ob die Kinder gut versorgt sind und ihnen gute Bildung zugänglich gemacht wird, ob für humane Pflege im Alter, … saubere Luft, Wasser, Energie gesorgt ist« - auch wie eine solche öffentliche Infrastruktur beschaffen sein und finanziert werden soll, ist Gegenstand von Verteilungs- und Klassenkämpfen. Die vielen an deren Organisierung Beteiligten haben Riexinger gelehrt, dass dieser bunte Klassenkampf mit »Solidarität und Lebensfreude« geführt werden kann.

Dem Politiker und Gewerkschafter ist zugleich klar, dass die Arbeiter*innenklasse heute diverser denn je und zugleich fragmentiert, ja gespalten ist. Gegen rassistische Ressentiments setzt er die Erfahrung entgegen, dass Migrant*innen »vielfach das Rückgrat der gewerkschaftlichen Kämpfe, insbesondere in den wilden Streiks 1969 und 1971« bildeten. »Voraussetzung dafür war, dass die damals so bezeichneten ›Gastarbeiter‹ in die Tarifverträge einbezogen wurden.« Ihre arbeitsrechtliche Gleichbehandlung sei Grundlage für ihre Einbeziehung in gewerkschaftliche Kämpfe gewesen. Den darüber hinaus gehenden Bedingungen einer solidarischen Einwanderungsgesellschaft widmet der Autor ein ganzes Kapitel.

Die Formulierung gemeinsamer Interessen sei, davon ist Riexinger überzeugt, »Ansatzpunkt für eine solidarische Klassenpolitik«. Er begründet dies (wert)theoretisch wie praktisch entlang der Beispiele Prekarisierung und öffentliche Infrastruktur. Gemeinsames Agieren, auch das macht der Autor deutlich, gelingt dabei nur langfristiger, mühsamer Organisierungsarbeit.

Ein schlichtes Nebeneinander ungleichzeitig geführter Kämpfe ist für Riexinger »kein ausreichendes Instrument«. Nötig sei es, »die Kräfte besser zu bündeln, zu politisieren«, auf ein gemeinsames Projekt hin zu orientieren. Der LINKE-Chef schlägt die Idee eines »Neuen Normalarbeitsverhältnisses« als »das Herz einer verbindenden Klassenpolitik« vor: unabgegoltene Ansprüche von Lohnarbeitenden, »die unter den gegenwärtigen Bedingungen der Produktivkraftentwicklung, des erwirtschafteten Reichtums und vorhandener Möglichkeiten als selbstverständlich«, als »normal« gelten müssten - eine neue »moralische Ökonomie der Arbeiterklasse« (E.P.Thompson).

Der »Gebrauchswert« einer sozialistischen Partei besteht nach Ansicht des Autors darin, in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen als »im Alltag verankerte Organisierung der ›gesamten Klasse‹ mit ihren verschiedenen Gesichtern« zu fungieren. Nicht die Einheit der Klasse ist für ihn das Ziel, sondern die Verbindung ihrer unterschiedlichen Teile und vielfältigen Interessen - in Anerkennung von Differenz und mit Respekt.

Die Verknüpfung von realen Klassen-»Geschichten«, analytischem Tiefgang, reicher Erfahrung und strategischer Reflexion weist Riexinger als »organischen Intellektuellen« ganz im Sinne Antonio Gramscis aus. Sein Buch ist als geistiges Rüstzeug für aktuelle Auseinandersetzungen unbedingt zu empfehlen.

Bernd Riexinger. Neue Klassenpolitik. Solidarität der Vielen statt Herrschaft der Wenigen. Erschienen bei VSA, Hamburg 2018. 160 S., br., 14,80 €.

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