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Zwei Superschluffis
In Berlin, das weiß man, ist für durchschnittlich verdienende Normalsterbliche die gelungene Anmietung einer Wohnung mittlerweile ein so seltenes Ereignis wie für lungenkranke Meerschweinchen die gelungene Besteigung des Nanga Parbat. Wer jedoch richtig Asche hat, kann sich freilich eine ca. 20 Quadratmeter umfassende »Wohnlounge« »im aufstrebenden Szenekiez Südsüdostneukölln« leisten. Kostenpunkt etwa 800 Euro kalt, bei Bedarf und gegen Aufpreis auch als »Luxuslounge« inklusive Handwaschbecken und Kochplatte. Wer hingegen nur mit einem Durchschnittsgehalt ausgestattet ist, kauft sich vorsorglich schon mal einen robusten wintertauglichen Schlafsack mit schmutzabweisender Kunststoffhülle.
Ich hatte also enormes Glück, als ich vor einiger Zeit genötigt war, von einem Tag auf den anderen aus meiner alten Mietwohnung auszuziehen. Zwei barmherzige Samariter haben mich auf mein hartnäckiges Betteln hin seinerzeit aufgenommen, das heißt: Ich durfte als Dritter im Bunde in deren sogenannte linke Wohngemeinschaft ziehen.
Zur Erklärung: Bei einer Wohngemeinschaft handelt es sich – unter den in den Disziplinen Nichtswissen und Vollignoranz geschulten Betriebswirtschaftsjugendlichen der Gegenwart weiß das keiner mehr – um ein in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts von allerlei fröhlichen Drogenbenutzern, Langhaarigen und Gammlern etabliertes Wohnmodell, bei dem Leute gemeinschaftlich nach dem Prinzip der Solidarität und angetrieben vom Bemühen um eine fortschrittliche Gesellschaftsveränderung in einer Wohnung wohnen, die sie nur in äußersten Notfällen putzen. Nachdem sie einander jeweils noch das letzte in den hinteren Regionen des Kühlschranks aufgefundene Scheibchen Salami weggefressen haben.
Die zwei eher lebensuntüchtigen und realitätsverleugnenden Superschluffis, mit denen ich nun – passenderweise in der Nähe der einstigen Stalinallee – zusammenzuleben genötigt war, waren wohl so etwas wie die beiden letzten lebenden linken Studenten: Der eine las, sich dabei unentwegt tapfer ein Dosenbier nach dem anderen in den Schlund gießend und wahlweise Sinnsprüche von Lenin, Mao oder Kapitän Schwandt zitierend, den ganzen Tag und bis spät in die Nacht in den kryptischen Schriften der beiden Krawallphilosophen Theoder W. Adorno und G.W.F. Hegel, während der andere, der von Kopf bis Fuß tätowiert war und auf Amtsformularen als Beruf stets ebenso enthemmt wie stur »Schriftsteller« angab, ganz und gar verschüchtert wirkte und nie sein Zimmer verließ, in welchem er zumeist unschlüssig und wie in Agonie verfallen auf einer alten muffigen Chaiselongue lungerte. Kurz: Es waren außergewöhnlich liebenswerte, brave Menschen, wie man sie heute in Berlin nur noch selten findet. Kürzlich bin ich wieder ausgezogen, werde die beiden aber liebevoll in bester Erinnerung behalten.
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