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  • "Die Schatten der Wüste"

Wenn die Familie zum Feind wird

Der Dokumentarfilm »Die Schatten der Wüste« geht der Ursache und den Folgen des Todes eines Wanderarbeiters nach

  • Jörn Schulz
  • Lesedauer: 4 Min.

Extreme Ausbeutung, gefährliche Arbeitsbedingungen, Rechtlosigkeit, das Kafala-System, das Beschäftigte der Vormundschaft ihres Arbeitgebers unterstellt - die Probleme der Arbeitsmigranten in den Golfmonarchien sind seit Langem bekannt, und sie haben oft tödliche Folgen. Mindestens 24 570 indische Arbeiter starben zwischen 2012 und Mitte 2018 in den Golfmonarchien. Die tatsächliche Zahl liegt noch höher, da aus Kuwait und den Vereinigten Arabischen Emiraten keine vollständigen Daten vorliegen. Auskunft über die Todesursachen gab nur Katar: 14 Prozent der Arbeiter starben durch Unfälle, 6 Prozent begingen Selbstmord, bei 80 Prozent hatte der Tod eine »natürliche« Ursache - wozu auch die Folgen mangelnden Schutzes bei der Arbeit in glühender Hitze zählen dürften.

Auch Baskaran hat die Arbeit in den Golfmonarchien nicht überlebt. War es Suizid, wie die Behörden Dubais angeben? Seine Ehefrau Sundari, Jayakrishnan Subramanians Cousine, glaubt nicht daran. Subramanian und Franziska Schönenberger reisen nach Indien, um mehr herauszufinden und Sundari zu helfen. Wie ihr Film »Amma und Appa«, in dem beide die Reaktion ihrer Familien auf ihre Heiratspläne dokumentierten, ist auch die Dokumentation »Die Schatten der Wüste« ein sehr persönlicher Film. Obwohl in ästhetisch ansprechender Form filmisch gelöst, etwa wenn Episoden aus Baskarans rekonstruierter Vergangenheit mit animierten Graphic-Novel-Elementen ins Bild gesetzt werden, ist das ein nicht ganz unproblematischer Ansatz.

Subramanian und Schönenberger bedienen sich nicht der Relotius-Methode klischeehafter Zuspitzung, und der Film gibt Einblicke in das System der Wanderarbeit und den Umgang mit den in Indien mittlerweile wohlbekannten Gefahren der Kafala-Kontrakte. Die überwiegend geheim gedrehten Aufnahmen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten dokumentieren auch, dass manche Wanderarbeiter sich angesichts ihrer unerträglichen Lebenssituation nicht nur für Alkohol und Prostituierte verschulden, sondern es manchmal sogar zu Raubmorden an Kollegen kommt. Es bedarf keines agitatorischen Off-Kommentars, um sich bei dem Wunsch zu ertappen, dem Emir von Schardscha einen Schuh an den Kopf zu werfen, wenn er sich bei einer offiziellen Veranstaltung für seine angebliche Großzügigkeit gegenüber den Wanderarbeitern feiern lässt. Mehr sagt hier der Blick der Kamera in die Runde der anwesenden Arbeiter.

Zumindest mehr Erläuterungen wären jedoch sinnvoll gewesen, um Sundaris Lage verständlich zu machen. Er wolle »von ihrem täglichen Kampf, mit dieser Tragödie fertig zu werden, von ihrem Schmerz« erzählen, schreibt Subramanian in der Director’s Note. »Aber auch von ihrer Kraft, nicht aufzugeben.« Ähnlich äußert sich Schönenberger: »Ich möchte einer Frau zuhören, der bisher noch nie jemand zugehört hat. Ich habe mich entschlossen, Sundari mit diesem Film eine Stimme zu verleihen.« Hier genügt die persönliche Ebene jedoch nicht. Es gibt nur ein paar Bemerkungen zur Situation von Witwen in traditionell hinduistischen Familien, die mit extrem marginalisiert noch freundlich beschrieben ist. Es gibt Familienmitglieder, die Sundari wohlgesinnt sind, doch die Verwandten, die sie unter Druck setzen, bleiben unsichtbar. Welche Formen dieser Druck annimmt, bleibt ebenfalls verborgen.

De facto wirkt die Personalisierung hier verharmlosend. Sundari hat nach dem Tod ihres Mannes an Eigenständigkeit gewonnen, sie hält durch. Doch ihr und ihren beiden Kindern dürfte das Schlimmste wohl nur erspart bleiben, weil Verwandte zu ihr halten und sie einen wohlmeinenden und zumindest nach indischen Maßstäben vermutlich wohlhabenden Cousin hat. Die meisten der 46 Millionen Witwen in Indien haben weit weniger Glück, nicht selten werden sie von ihren eigenen Kindern vor die Tür gesetzt. Anders als bei der Darstellung der Wanderarbeiter gelingt es dem Film hier nicht, anhand eines Einzelschicksals soziale Verhältnisse darzustellen.

Manchmal funktioniert die Erzählweise, die die Zuschauer mit einer knappen Aussage sich selbst überlässt. Sundaris Ehe war arrangiert, sie kann oder will nicht recht Auskunft darüber geben, ob sie ihren Mann mochte. Das gibt Anlass zum Nachdenken. Die Geschäftsbeziehung zweier Familien zwingt zwei Menschen zur Intimität. Was bedeutet das für ihren Alltag? Doch es bleiben zu viele Lücken, und manche Fragen werden gar nicht erst gestellt. Warum migrieren nur indische Männer? Dass weibliche Hausangestellte in den Golfmonarchien zusätzlich der Gefahr sexueller Gewalt ausgesetzt sind, wäre ein nachvollziehbarer Grund. Aber es gibt ja auch noch andere Länder.

»Ich möchte nicht anklagen und auch nicht aufdecken«, schreibt Subramanian - so weit, so gut. Doch es ist gerade die nicht ausreichende Kontextualisierung der Geschichte der indischen Witwe Sundari, die sie exotisiert. Dadurch bleibt der Film gerade in der Darstellung seiner Hauptfigur zu oberflächlich.

»Die Schatten der Wüste«, Indien/ Deutschland 2018. Dokumentarfilm. Buch und Regie: Franziska Schönenberger und Jayakrishnan Subramanian, 86 Min.

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