Auf Hartz IV hat niemand Lust

In einem Café für Erwerbslose tauschen sich Leistungsbezieher aus

  • Marion Bergermann
  • Lesedauer: 4 Min.

In Karlsruhe verhandelt das Bundesverfassungsgericht darüber, ob man Hartz IV-Bezieher*innen sanktionieren darf, aber das spielt für die Erwerbslosen, die sich im »Café Linksrum« treffen, keine Rolle. Es sei ja noch nichts entschieden. Hier finden die meisten, dass Hartz IV an sich kein gutes Programm eines Sozialstaats für seine Bürger*innen ist. Seit August letzten Jahres gibt es im Berliner Bezirk Spandau das Erwerbslosencafé, in dem sich Arbeitslose, Arbeitsuchende, prekär Beschäftigte und Angestellte treffen. Zwar gibt es keine Couches im Bürgerbüro der linken Bundestagsabgeordneten Helin Evrim Sommer, wo das Café einmal im Monat stattfindet, dafür Kaffee, Tee und Kuchen kostenlos. »Das Erwerbslosencafé ist eine gute Möglichkeit, die Betroffenen aus ihrer Einsamkeit zu holen. Sie können mal raus aus ihrem Alltag, können sich austauschen und gegenseitig helfen«, sagt Helin Evrim Sommer.

Brigitte Schilling ist Rentnerin und initiierte das Projekt. Sie hatte Sommer vorgeschlagen, den Treff von der Geschäftsstelle der LINKEN in Spandau in das Bürgerbüro zu verlegen. Seitdem kümmert Schilling sich um das »Café Linksrum«. Sie findet es wichtig, dass »auch Nichtbetroffene mal hören, wie es sich mit Hartz IV lebt«. Und »als Betroffener musst du dir nicht die fünf Euro für Kaffee und Kuchen abknapsen«, sagt sie.

An diesem Januarabend reden die Besucher*innen bei Käsekuchen vom Bäcker in der Nähe nicht nur über eigene Geschichten, es geht viel um Politik. Etwa um geschönte Arbeitslosenzahlen durch immer mehr Zeitarbeit oder Befristungen, und wie Erwerbslose in Medien und von der Politik als faul und unwillig stigmatisiert werden. »Die Negativstellung von Hartz IV ist doch klar. Um das arbeitende Volk auf Trab zu halten«, sagt Katayun, die, so wie andere Teilnehmende, ihren Nachnamen lieber nicht in der Zeitung lesen will. Sie ist Jobcoach und für den Austausch hier. In ihrem ehemaligen Beruf als Arbeitsvermittlerin in Charlottenburg habe sie 480 Jobsuchende gleichzeitig betreut, erzählt sie. Zu viel für eine ordentliche Betreuung, findet Katayun.

André besucht den Treff, »um mal rauszukommen«. Er bezieht seit kurzem Arbeitslosengeld. Der 53-Jährige war Zeitarbeiter, zwei Jahre lang wurde ihm alle sechs Monate eine Festanstellung in Aussicht gestellt, am Ende kam doch die Kündigung. Der ehemalige Export-Sachbearbeiter sorgt sich, wie es weitergeht. »Ich versuche alles, um nicht in Hartz IV zu kommen. Hartz IV ist programmierte, verordnete Armut«, sagt er. Für eine Arbeit würde er Berlin auch verlassen, obwohl er das nicht will. Der letzte Jobvorschlag, den ihm das Amt machte, gefiel André gar nicht. Er hat studiert, im Ausland gearbeitet und spricht drei Sprachen. Das Jobcenter schlug ihm vor, im Call Center anzufangen. Während er von sich erzählt, kommt er darauf zu sprechen, warum er Hartz IV aus gesellschaftlichen Gründen fraglich findet. »Aus Armut heraus können politische Strömungen entstehen, die man nicht möchte«, findet er, und meint damit Leute, die zu rechten Parteien umschwenken. Deshalb ist André für ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Finanzielle Sorgen spielen in Spandau für viele eine Rolle. Immer mehr Familien, die wenig verdienen, ziehen in den Bezirk, berichtet Rentnerin Brigitte Schilling. Außerdem waren laut Bundesagentur für Arbeit im Dezember 2018 8,8 Prozent der Spandauer*innen arbeitslos. Das ist mehr als der Berliner Durchschnitt, der bei 7,6 Prozent Arbeitslosigkeit liegt.

Katayun findet, dass es einen innerlich beschäftigt, wenn man Personen trifft, die Sozialleistungen beziehen. So geht es auch Marianne, die mit in der Runde sitzt. Auf der Weihnachtsfeier des Cafés, von der sie über ihre Partei erfuhr, habe sie zum ersten Mal in ihrem Leben jemanden getroffen, der Hartz IV bezieht. Seitdem kommt die 80-Jährige hierher, weil sie es wichtig findet, »nicht nur in der Theorie zu schweben«. Marianne hat zwei Universitätsdiplome und arbeitete als Geschichtslehrerin. »Ich will alles aufsaugen an Problemen der Leute, für die unsere Partei da ist«, sagt das LINKE-Mitglied.

Später schlägt Jobcoach Katayun André vor: »Komm mal zu mir ins Büro.«

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