Die Gerechtigkeitsillusion

Stephan Kaufmann über den Zusammenhang von Lohn und Leistung

»So ungerecht sind die Löhne in Deutschland«, erregte sich jüngst eine große deutsche Zeitung. Anlass waren nicht Millionenbezüge von Managern, sondern der - diese Woche beigelegte - Tarifstreit des Flughafenpersonals. Die Gewerkschaft ver.di hatte 20 Euro Stundenlohn gefordert. Die beklagte Ungerechtigkeit soll nun darin bestanden haben, dass das Flughafenpersonal damit deutlich mehr verdient hätte als zum Beispiel Altenpfleger oder Krankenschwestern. Der Unmut war verbreitet, laut einer Umfrage fanden 47 Prozent der Deutschen die ver.di-Forderung »falsch«. In Deutschland, klagte ein Twitter-Nutzer sei »der Flugverkehr wichtiger als zu pflegende Menschen«.

Die Beschwerde fußt auf der Idee, das Einkommen der Menschen stehe irgendwie in Verbindung mit ihrer Leistung, mit der gesellschaftlichen Nützlichkeit oder Erwünschtheit ihrer Tätigkeit. Zumindest solle dies so sein. Von daher sei es nicht einzusehen, warum jemand, der Gepäck und Passagiere kontrolliere, mehr verdiene als jemand, der Kranke pflege. Ausgerechnet dem Lohnsystem wird damit die Aufgabe zugedacht, jedem Arbeitnehmer seinen Beitrag zum gesellschaftlichen Wohl gerecht zu entgelten.

Dabei weiß jeder aus der marktwirtschaftlichen Praxis, dass dem nicht so ist. Anstrengende oder wichtige Tätigkeiten werden oft lausig bezahlt. Fragwürdige Jobs - von der Werbung über Aktienspekulation bis zum Panzerbau - bringen ein Mehrfaches dessen ein, was Reinigungskräfte oder Sanitäter verdienen. Anstrengende, einförmige Tätigkeiten werden nicht durch erhöhtes Gehalt kompensiert. Im Gegenteil.

Dennoch hält sich die Idee, Lohndifferenzen sollten sich durch die Nützlichkeit oder Bedeutung der Arbeitsleistung rechtfertigen. So als ließe sich bestimmen, ob ein Krankenpfleger nützlicher ist als eine Elektrotechnikerin, ein Bauarbeiter nützlicher als jemand, der Computer programmiert. Und als ließe sich diese Differenz dann auch noch in Euro und Cent beziffern.

Das aber ist ein Ding der Unmöglichkeit. Denn um ein bestimmtes Arbeitsergebnis zu erzielen, ist jeder wichtig. Um ein Haus zu bauen, braucht es Maurer, Architekten, Dachdecker, Statiker, Klempner, Elektriker. Die Frage »Wer ist nützlicher?« ist absurd. Deswegen lassen sich mit ihr auch keine Lohndifferenzen erklären, auch wenn das immer wieder versucht oder eingeklagt wird.

Der Lohn misst nicht die gesellschaftliche Bedeutung der Tätigkeit. Aber was ist der Lohn dann? Für abhängig Beschäftigte ist er Mittel des Lebens. Für den Unternehmer ist er Mittel des Profits - er kauft die Verfügung über die Zeit der Lohnabhängigen und gestaltet die Leistungsbedingungen (»Arbeitsplatz«) so, dass am Ende ein Überschuss bleibt, den er sich aneignet. In diesem Überschuss, in dieser Differenz von Kosten und Einnahmen besteht für das Unternehmen die ganze »Leistung« des Arbeitnehmers, für die seine Ausbildung, seine Fähigkeiten und Fertigkeiten angewandt werden.

Gemäß den verschiedenen Positionen kann der Lohn für den Arbeitnehmer nie hoch genug und für das Unternehmen nie gering genug sein. Wie hoch er am Ende ausfällt, ist Ergebnis eines Machtkampfs. In ihm steht dem Interesse an einem rentablen Geschäft das Interesse an einer Existenz gegenüber. Die Machtverteilung ist also ziemlich einseitig. Ohne Zusammenhalt, ohne Solidarität sind die Arbeitnehmer daher verloren. Und es ist exakt diese Solidarität, die untergraben wird durch Klagen, Gepäckkontrolleure sollten verzichten, weil Krankenschwestern schlecht bezahlt werden.

Ver.di hat die 20 Euro Stundenlohn nicht durchsetzen können. Die Krankenschwestern haben davon nichts.

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