Ein Meistertänzer auf zwei Rädern

Horst Wehner tanzt Rumba im Rollstuhl und würde auch die Politik gern zum Tanzen bringen

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 8 Min.
Seit fünf Jahren sitzt Horst Wehner im Rollstuhl. Dort begann er eine erstaunliche sportliche Karriere: Er ist deutscher Tanz-Meister. Auch die Politik würde der linke Abgeordnete gern stärker zum Tanzen bringen.
Bei der Rumba drehen die Reifen durch. Immer wieder setzt Horst Wehner zum rasanten Kreiseln an, immer wieder schüttelt er den Kopf. Die fingerdicken Pneus seines neuen Rollstuhls quietschen auf dem glänzenden Parkett; es ist förmlich zu spüren, wie der Gummi der kraftvollen Drehung Halt zu bieten sucht. Die aber endet nicht dort, wo sie soll. Wehner wischt sich mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn. Der athletische Mann wirkt ratlos. Er grollt mit der Technik und hätte sich doch lieber dem Tanz hingegeben.
Tanztraining ist, was an diesem Freitagnachmittag im Festsaal der Station C 123 des Städtischen Klinikums Chemnitz stattfindet. Am Rand der Tanzfläche stehen Stühle aufgereiht, unter der Empore gibt es alte hölzerne Garderobenständer, am Bühnenrand steht eine Musikanlage. Die Ausstattung für die Tanzstunde ist gewöhnlich, die Tänzer sind es nicht. Sechs der acht Menschen, die sich im von Vorhängen gedämpften Sonnenlicht unter einem goldenen Kronleuchter zu Tangorhythmen und Walzermelodien bewegen, sitzen im Rollstuhl. Ausladende Schritte, zarte Drehungen auf Zehenspitzen, wirbelnde Füße - all das ist an diesem Nachmittag nicht zu sehen.

Gefährliche Rücklage beim Cha-Cha-Cha
Getanzt wird trotzdem. Zwei junge Frauen umkreisen einander in abgezirkelten Bewegungen, ein junger Mann, der wenig mehr als Kopf und Hände bewegen kann und in einem wuchtigen, elektrisch betriebenen Rollstuhl sitzt, versetzt diesen mit kleinen Ausschlägen des Steuerhebels in kreiselnde Fahrt. Auch ein älteres Paar tanzt eine Rumba - so elegant es eben geht, wenn einer der Partner sitzen muss und ein sperriger Rollstuhl scheinbar jedem engen Körperkontakt im Wege steht.
Dass das Gefährt beim Tanz wirklich behindert, muss indes bezweifeln, wer Horst Wehner und seiner Partnerin Almira Büchner zuschaut. Beim Cha-Cha-Cha scheinen die beiden förmlich zu explodieren. Büchner, eine grazile, dunkelhaarige 24-Jährige, der man anmerkt, dass sie seit ihrer Kindheit Turniertanz betreibt, wirbelt über die Tanzfläche, die Arme bis in die Fingerkuppen gespannt, die Hüften kreisend, die Fußspitzen lasziv zögernd über das Parkett ziehend. Wehner, dessen Oberkörper und Hals scheinbar wettmachen wollen, was an Beinmuskulatur fehlt, rotiert in schwindelerregendem Tempo um seine Partnerin, um dann aus rasanter Fahrt urplötzlich in eine halbe Rücklage zu kippen, die dem Zuschauer das Herz stocken lässt. Er verharrt einen Moment in der fragilen Position und greift im nächsten Augenblick resolut und gleichzeitig sanft nach der Hand seiner Tanzgefährtin, die, gespannt wie ein Bogen, auf seinen Knien zu liegen kommt. Störende Distanz, ein hinderlicher Rollstuhl - Fehlanzeige. Zu sehen sind Rasse, Eleganz und atemberaubendes Tempo. Zu sehen sind die amtierenden deutschen Meister im Rollstuhltanz.
Vor sieben Jahren war bei Horst Wehner an Tanzen nicht zu denken. Im Juli 2000 erlitt der damals 48-Jährige, der zwar von Kindheit an behindert ist, sich aber immerhin mit Gehhilfen fortbewegen konnte, einen schweren Unfall. Monatelang versuchte er mit Hilfe von Physiotherapeuten, die Fähigkeit zum Laufen zurückzugewinnen. Der Kampf ging verloren; Wehner sitzt seither im Rollstuhl.
In seinem Bewegungsdrang wollte sich der lebenslustige Mann, der jahrelang Sänger der Gruppe »Viertakt« war und in Karl-Marx-Stadt Kultureinrichtungen wie das Arbeiterjugendvarieté leitete, indes nicht bremsen lassen. Er versuchte sich im Rollstuhl-Basketball, was nahe lag, nachdem er zuvor schon Sitzball, eine populäre Behinderten-Sportart, betrieben hatte. Die Korbjagd überzeugte ihn allerdings nicht. Die »Bolzerei« war zu groß: »Ich suchte etwas Ästhetischeres.«
Zum Tanz brachten ihn die Dresdner »Dance and Rollers«, eine Formations-Tanzgruppe, die in der Kreischaer Klinik trainierte, in der auch Wehner zu dieser Zeit eine Reha-Kur absolvierte. Fortan fuhr er jeden Freitag für eine Stunde zum Training - eine Stunde, »in der ich an nichts anderes denken musste als an Musik und Bewegung«. Für die innere Balance waren solche Auszeiten nach dem Tiefschlag des Unfalls wichtig. Die Wirkung, sagt Wehner, »hielt jedesmal die ganze Woche an«.
Sportliche Meriten bringt Wehner das Tanzen erst ein, seit er es in seiner Heimatstadt betreibt. Dort gründeten der Sozialverband VdK, bei dem er seit 17 Jahren arbeitet und Landesgeschäftsführer ist, gemeinsam mit dem Tanzsportclub »Synchron« und mit Unterstützung der Firma »Reha aktiv« vor drei Jahren eine Rollstuhl-Tanzgruppe. Wehners Leidenschaft fürs Tanzen war bekannt. Er hatte Interesse, allerdings auch ein Problem: »Ich brauchte eine Partnerin.« Dem Manne konnte geholfen werden: Er traf die »Fußgängerin« Almira Büchner.

Eine Fußgängerin mit viel Tanzerfahrung
»Fußgänger« nennen die Rollstuhltänzer diejenigen Menschen, die auf zwei Beinen tanzen. Almira Büchner hatte bis 2003 stets mit anderen »Fußgängern« getanzt, sofern der Begriff auf die eleganten Turniertänzer überhaupt anzuwenden ist. Dann verließ ihr langjähriger Partner die Stadt. Büchner wechselte in die Behindertengruppe - ein Schritt, den sie heute als selbstverständlich bezeichnet: »Ich wurde gefragt und bin hingegangen.« Die von Vorbehalten freie Neugier hat sich gelohnt: Deutsche Meisterin, sagt Büchner, »wäre ich sonst heute nicht«.
So routiniert, wie es in der Rückschau klingt, sind sich die »Fußgängerin« und der Rollstuhltänzer allerdings wohl doch nicht begegnet. Sie hätten sich »höflich«, aber mit deutlicher Vorsicht aneinander herangetastet, sagt Wehner. Büchner sorgte sich, ihr Partner könne bei rasanten Figuren umkippen; er fürchtete, seiner Partnerin über die Füße zu fahren. Der Rollstuhl, in dem Wehner sitzt, ist zwar ein filigranes Gefährt, dem nur Aluminium aus dem Flugzeugbau die nötige Stabilität verleiht; seine Reifen dürften aber trotzdem mehr Blessuren verursachen als ein Schuh.
Inzwischen tastet sich das Tanzpaar Wehner / Büchner nicht mehr ab, sondern lotet die Grenzen dessen aus, was bei der Übersetzung von Tangoschritten und Rumbabewegungen in eine Choreografie für Rollstuhl und zwei Beine möglich ist. Wie gut das funktioniert, zeigt der inzwischen schon zweite Meistertitel in der Kategorie »Latein«. Auf diese Disziplin, in der außerdem Samba, Paso Doble und Jive getanzt werden, konzentrieren sich die beiden, weil er es ist, der im Rollstuhl sitzt. Mit den Standardtänzen haben die beiden noch so ihre Probleme, sagt Wehner: »Da muss der Mann schließlich führen.«
Auch bei internationalen Wettkämpfen wie den offenen polnischen Meisterschaften treten die Chemnitzer an - und merken dort Niveauunterschiede, die Gründe auch in der unterschiedlichen Förderung des Behindertensports haben. In vielen osteuropäischen Ländern sei der Rollstuhltanz »wie hier früher die Spartakiade organisiert«, sagt Wehner: Schon Zehnjährige treten bei Wettkämpfen an; entsprechend groß ist die Zahl hochklassiger Sportler. In Deutschland dagegen mussten die Rollstuhltänzer gerade einen herben Dämpfer hinnehmen: Die Förderung ihrer Sportart wurde gestrichen; selbst Meisterpaare wie Wehner / Büchner stehen nun vor der Europameisterschaft, die im Oktober in Polen stattfindet, ohne Zuschüsse für Trainingslager da. Der Grund: Die Sportförderung wird auf medaillenträchtige Sportarten konzentriert - eine Tendenz, die dem gelernten DDR-Bürger Wehner sehr bekannt vorkommt.
Solche Missstände zu ändern, ist ein berufliches Anliegen Wehners - um so mehr, seit er neben seiner Tätigkeit beim VdK auch in die Politik ging. Seit September 2004 sitzt der Parteilose für die Linksfraktion im sächsischen Landtag, dessen Sozialausschuss er leitet. Auch im Stadtrat von Chemnitz hat er ein Mandat. Dort muss er sich mit Grotesken herumschlagen wie dem Neubau eines Restaurants, das auf Stelzen errichtet wurde. Der Zugang für Behinderte ist unmöglich, obwohl die Bauordnung vorsieht, öffentliche Gebäude - also auch Restaurants - barrierefrei zu errichten. Kein Problem, beschied ihm die Verwaltung auf Anfrage: Es gebe ja genug andere Gaststätten in der Stadt.
Derlei - womöglich unfreiwillige - Ignoranz erlebt Wehner immer wieder. Selbst von seiner Fraktion wurde er schon zu Veranstaltungen eingeladen, die er als Rollstuhlfahrer nicht erreichen konnte. Er sehe die Gesellschaft aber in der »Pflicht, die Umwelt so zu gestalten, dass sie für jedermann gleichberechtigt nutzbar wird«.

Bauchmuskeltraining am Landtagstisch
Durchzusetzen, das hat Wehner in zweieinhalb Jahren Landtagsleben erfahren, sind solche Ansprüche nicht eben leicht. Es gebe einen Kontrast zwischen den Sonntagsreden der Regierung und der Realität in mancher Kommune, sagt der Sozialpolitiker. Wehner bringt die Anliegen Behinderter regelmäßig aufs Tapet, doch die Bretter, die es zu bohren gilt, sind dick, das Verfahren mit Anträgen, Ausschussberatungen und Abstimmungen ist, zumal für einen Oppositionspolitiker, oft ernüchternd. Die Politik, scheint es, hat der Meistertänzer Wehner noch nicht in dem Maße zum Tanzen gebracht, wie er das möchte. Um so erfrischender ist dann eine feurige Rumba am Freitagnachmittag. Aus dem Tanzen, ließ er nach dem Gewinn des Meistertitels per Pressemitteilung wissen, schöpfe er »die Lebenslust, die im politischen Alltag oft verloren zu gehen droht«.
Übermäßig ärgern will sich Wehner über das zähe politische Geschäft freilich nicht. Manchmal kann man ihn dabei beobachten, wie er sich an seinem Tisch im Plenarsaal festhält und in kurzen, energischen Bewegungen vor und zurück rollt. Ein Zeichen von angestautem Frust sei das nicht, versichert er; vielmehr handle es sich um etwas, was er »binnenkörperliche Übungen« nennt. Die stärken die Bauchmuskeln, und von denen braucht es viele, damit die Reifen bei der Rumba kräftig rotieren.

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