Schlaglicht auf das System Jugendamt
Schon vor zwei Jahren gab es Hinweise auf jetzt bekanntgewordene Missbrauchsfälle in Nordrhein-Westfalen
Der Hauptverdächtige im Fall mindestens tausendfachen Kindesmissbrauchs war Pflegevater eines kleinen Mädchens. Ein Jugendamt der Region um Lügde in Nordrhein-Westfalen hatte es 2016 in seine Obhut gegeben. Bereits kurz darauf gab es die ersten handfesten Warnungen an Polizei und Jugendämter, dass der heute 56-Jährige sich an der ihm anvertrauten Fünfjährigen und an einem anderen Kind vergangen haben könnte. Es geschah nichts.
Vergangenen Mittwoch hatte die Polizei Lippe auf einer Pressekonferenz bekanntgegeben, dass der Mann zusammen mit zwei weiteren im Alter von 48 und 33 Jahren auf einem Campingplatz seit mehr als zehn Jahren Kinder vergewaltigt und für Pornodrehs missbraucht hat. Das ebenfalls missbrauchte Pflegekind soll dabei als Lockvogel für andere Mädchen und Jungen eingesetzt worden sein.
Am Freitag teilte die neu gebildete Ermittlungskommission »Eichwald«, benannt nach dem Zeltplatz, mit, man habe weitere Opfer identifiziert. Die Zahl der Betroffenen habe sich somit auf 29 erhöht. Es handle sich überwiegend um Mädchen, die zum Tatzeitpunkt zwischen vier und 13 Jahren alt waren. Der Hauptverdächtige Andreas V. sitzt seit dem 6. Dezember in Untersuchungshaft, die beiden mutmaßlichen Mittäter wurden am 10. und 11. Januar festgenommen.
Das Verfahren in dem Fall wird nun beim Polizeipräsidium Bielefeld geführt, wie die Staatsanwaltschaft Detmold sowie die Polizeibehörden Bielefeld und Lippe am Donnerstag in einer gemeinsamen Erklärung mitteilten. Insbesondere die Bearbeitung der zahlreichen sichergestellten Daten erfordere die Einbindung weiterer Fachleute anderer Polizeibehörden, heißt es darin. Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) sagte am Sonntag im Deutschlandfunk, es müssten 13 000 Dateien mit Kinderpornografie ausgewertet werden. Dabei helfe das Landeskriminalamt mit.
Die Ermittler prüfen auch, ob den Jugendämtern im niedersächsischen Kreis Hameln/Pyrmont - Bad Pyrmont ist von Lügde aus die nächstgelegene Stadt - und im Kreis Lippe sowie der Polizei Lippe Versäumnisse vorzuwerfen sind. Nach Auskunft von Oberstaatsanwalt Ralf Vetter gab es bereits 2016 Hinweise von zwei Zeugen zum möglichen Missbrauch des Mädchens durch den Hauptbeschuldigten. Die Polizei habe diese zwar an das Jugendamt Lippe weitergeleitet, aber keine Ermittlungen aufgenommen. Jetzt werde geprüft, ob sie dies hätte tun müssen, sagte Vetter am Donnerstag in Detmold.
Ein Zeuge habe sich im August 2016 telefonisch an die Polizei, das Jugendamt und den Kinderschutzbund gewandt. Er hat laut einem Bericht der »Lippischen Landeszeitung« den Vorwurf erhoben, Andreas V. habe seine beiden Töchter »unsittlich berührt«. Und im November 2016 wandte sich eine Mitarbeiterin des Jobcenters Blomberg an die Polizei und das Jugendamt Lippe. Das Jugendamt hatte vergangenen Mittwoch zunächst erklärt, die Kollegin habe lediglich bemängelt, dass das Kind bei Andreas V. in einer heruntergekommenen Laube auf dem Campingplatz lebe. Eine Überprüfung habe ergeben, dass die Lebensumstände dort für das Pflegekind akzeptabel seien.
Am Freitagabend berichtete »Spiegel online« dagegen unter Berufung auf Oberstaatsanwalt Vetter, die Jobcenter-Mitarbeiterin habe nach einem Gespräch mit V. und der Pflegetochter klar den Verdacht geäußert, dass dieser das Kind missbrauche, und eindeutige Äußerungen des Mannes in einem Gedächtnisprotokoll wiedergegeben. Beide Jugendämter hätten von der Meldung gewusst. Doch niemand sei dem nachgegangen. Erst nach einer Anzeige im November 2018 wurde zumindest das Pflegekind sofort in Sicherheit gebracht.
In den letzten Tagen wurden Rufe nach einer Meldepflicht von Internetdiensten für kinderpornografische Inhalte laut. Die Gewerkschaft der Polizei forderte eine Ausweitung der Vorratsdatenspeicherung. Doch die Hauptprobleme dürften in der mangelnden Kommunikation zwischen verschiedenen Behörden und dem Fehlen einer Fachaufsicht der Jugendämter liegen. Letztere fordern Kinder- und Familienrechtler seit Jahren. Die Gewerkschaft ver.di beklagt zudem eine teilweise dramatische Unterbesetzung der Ämter und eine entsprechende Überlastung der Mitarbeiter.
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