»Sie verlieren ihre Angst«

Auf der RLS-Streikkonferenz diskutierten Aktive über die Erneuerung der Gewerkschaften

Zwei Hörsäle und die halbe Turnhalle sind rappelvoll, als die US-amerikanische Gewerkschafterin Jane McAlevey erklärt, wie man Kämpfe nicht nur führt, sondern auch gewinnt. Sie ist so etwas wie der Stargast der Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS), die an diesem Wochenende auf dem Nord Campus der Technischen Universität Braunschweig stattfindet. Es geht um »gewerkschaftliche Erneuerung« und wenn sich jemand damit auskennt, dann diese Frau, die in zahlreichen Organizing-Kampagnen in den USA bewiesen hat, wie weit Gewerkschaften kommen können, wenn sie die gesamte Belegschaft aktivieren.

Die Luxemburg-Stiftung hat extra für die Konferenz McAleveys Buch »No Shortcuts« übersetzen lassen, eine Art Anleitung zur Selbstermächtigung. Auf deutsch ist es beim VSA-Verlag unter dem Titel »Keine halben Sachen« erschienen. Beim Kongress bekommen es die Teilnehmer gegen Spende - am Geldbeutel soll die Verbreitung jedenfalls nicht scheitern. Denn die zentrale Frage der inzwischen vierten Veranstaltung dieser Art ist: Wie können Gewerkschaften stärker werden? Wie die arbeitende Bevölkerung aus der Defensive kommen? »Gewerkschaften müssen kämpferischer und politischer werden«, erklärt
Organisatorin Fanny Zeise, weg von Stellvertreterpolitik und sozialpartnerschaftlicher Einbindung. Das Interesse an diesen Fragen wächst Jahr für Jahr. Mit über 700 Teilnehmern sei es die bisher größte »Streikkonferenz«, so die Gewerkschaftsreferentin der Stiftung. Und es wären wohl noch einige mehr geworden – die Anmeldeliste musste aus Platzgründen schon vor Wochen geschlossen werden.

Die Erneuerung geht von unten aus. Viele junge Gewerkschaftssekretäre aus der gesamten Bundesrepublik sind nach Braunschweig gekommen, Betriebsräte, Wissenschaftler, Organizing-Teams, Gewerkschaftsaktive aus Schulen, Kitas, Metallbetrieben. Pflegekräfte aus so gut wie allen Kliniken, deren Streiks für mehr Personal in den vergangenen Monaten für Schlagzeilen sorgten, sind dabei. Nur beim Auftaktpodium am Freitag kommen Vorstände von Gewerkschaften und Linkspartei zu Wort. Neben der GEW-Vorsitzenden Marlis Tepe und der designierten ver.di-Vize Christine Behle sind Linksparteichef Bernd
Riexinger und IG-Metall-Vorstand Hans-Jürgen Urban eingeladen.

»Die Konferenz will inspirieren und ermutigen«, sagt Zeise. Zwar erinnern Redner mehrfach an die bekannt alarmierenden Statistiken: Tarifbindung und Organisationsgrad sinken stetig, die Lohnquote, die etwas über Verteilungsgerechtigkeit aussagt, fällt weiter, trotz vorzeigbarer Tarifabschlüsse in den letzten Jahren. Die Gewerkschafter bestärkt das jedoch umso mehr in ihrer Meinung, dass sich etwas grundsätzlich ändern muss. Große Hoffnungen richten sich daher auf die zarten Anzeichen von Erneuerung, die es in Deutschland gibt. Mit Ryanair, Krankenhäusern oder den Essenskurieren finden Arbeitskämpfe in Bereichen statt, von denen es auf Gewerkschaftsseite lange Zeit hieß: Da geht nichts. »Es gibt eine Aufbruchstimmung«, sagt Zeise. »Leute verlieren ihre Angst, werden selbstbewusster.«

Viele bei der Konferenz verstehen unter Erneuerung, dass Gewerkschaften stärker gemeinsam kämpfen und sich mit anderen gesellschaftlichen Gruppen verbünden. Kämpfe zusammen denken, das meint: Angehörige von Pflegebedürftigen unterstützen die Altenpflegekräfte, Eltern demonstrieren zusammen mit den Lehrern für mehr Personal, kommunale Kitas Seit an Seit mit privaten Einrichtungen.

Diese Solidarität ist aber nicht automatisch da, sondern muss erzeugt werden. Der Kongress will dazu beitragen. Er führt Menschen über Regionen und Branchen hinweg zusammen, Haupt- und Ehrenamtliche, betrieblich Aktive, die an verschiedenen Orten letztlich doch ähnliche Kämpfe ausfechten. In den Arbeitsgruppen diskutieren sie über die richtige Arbeitszeitforderung, Widerstand gegen Ausgründungen, Gewerkschaftsaufbau in Ostdeutschland, Rechtspopulismus in Gewerkschaften, die Transformation der Automobilindustrie. Und es wird ganz praktisch Solidarität geübt: Beschäftigte eines Metallbetriebs aus Hannover bekommen eine Bühne, um über die drohende Verlagerung ihres Werks nach Belgien zu berichten. Ver.di-Leute sammeln Unterschriften für eine Personalrätin in Bayern, die mit Hilfe eines auf »Unkündbare« spezialisierten Anwalts rausgeworfen werden soll.

»Solch übergreifende Treffen fehlen der Gewerkschaftsbewegung«, sagt eine Gewerkschaftssekretärin der IG Metall. Der Kongress füllt eine Lücke. Umgekehrt bedeutet das aber auch, dass viele der an diesem Wochenende diskutierten Ansätze erst noch in den Betrieben und Vorständen ankommen müssen. Wenn der DGB irgendwann einmal so einen Kongress ausrichtet - dann wäre die gewerkschaftliche Erneuerung auf einem guten Weg.

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