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Kein Heim-PC für Hartz-IV-Kinder
Das Sozialgericht entschied, ob das Jobcenter einem Schüler einen Computer bezahlen muss
«Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Hartz IV-Empfänger vom Jobcenter 350 Euro für einen Computer bekommen», sagt die Mutter eines Schülers am Wilmersdorfer Goethe-Gymnasium. Doch so einfach ging es nicht: Der Gymnasiast, dessen Familie Arbeitslosengeld II bezieht, hat das Jobcenter auf Kostenerstattung eines Computers zur Erledigung seiner Hausaufgaben verklagt. Beim Gerichtstermin am Mittwoch kam es zu dem Ergebnis: Für den Sechstklässler wird es keinen eigenen Heim-PC geben.
Stattdessen verpflichtete sich Jörg Freese, der Schulleiter des Gymnasiums, in der Ganztagsbetreuung der Schule bis 16 Uhr einen Computer und einen Drucker zur Verfügung zu stellen. Sollte er dem nicht nachkommen, muss die Senatsverwaltung für Bildung dafür sorgen, dass der Schüler einen Computerzugang hat. Er könnte außerdem die öffentliche Bibliothek in der Nähe der Schule nutzen. Schulleiter Freese räumt jedoch ein: «Um die Hausaufgaben zu machen, gibt es auch einen häuslichen Bedarf an einem Computerzugang.»
Rückblende: Im März 2018 beantragte der Zwölfährige beim Jobcenter Charlottenburg-Wilmersdorf die Kostenübernahme für einen Computer mit Internetzugang, Tastatur und Monitor. Seine Mutter beschrieb ihre Lage vor Gericht: «Mein alter Computer ist kaputt gegangen und ich kann mir keinen neuen leisten. Deswegen bin ich in den letzten Monaten immer mit meinem Sohn ins Internetcafé gegangen, damit er im Internet für seine Hausaufgaben die nötigen Recherchen machen kann.» Die Frau, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, hat 17 Jahre lang als Einzelhandelskauffrau in der Porzellanabteilung des KaDeWe gearbeitet - doch ihre Arbeitszeiten waren irgendwann nicht länger mit der Betreuung ihrer Kinder vereinbar.
Richter Michael Kanert zeigte sich erleichtert, dass nach einem regelrechten «Abschiebekarussell der Verantwortung» der Schulleiter nun eingesehen habe, dass er der «zuständige Mann» ist. Zu Beginn der Verhandlung führte der Richter aus, dass das Sozialgericht das Jobcenter schon öfter zu Zahlungen verpflichtet habe. «Es gibt einige Lücken im Sozialsystem - eine davon ist Hartz IV.
Die Berechnung des Hartz IV-Bedarfs ist, wie das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, in Teilen verfassungswidrig. Für Kinder wurde zum Beispiel ein Bedarf von 60 Prozent des Bedarfs eines Erwachsenen festgelegt. »Dabei sind Kinder keine kleinen Erwachsenen. Sie haben besondere Bedürfnisse und eines davon ist eben Bildung«, sagte er. Für den Schulbedarf wurden deshalb 2011 im Arbeitslosengeld-II-Satz pro Kind 100 Euro jährlich mehr beschlossen. »Der Betrag war völlig willkürlich!«, so der Richter.
Da aber laut Berliner Schulgesetz das Land Lehrmittel stellen muss, sei der Bund nicht verantwortlich. Im Rahmen der Lehrmittelfreiheit müsse die zuständige Schulbehörde, also die Senatsverwaltung für Bildung, die Lehrmittel stellen. Diese wiederum erkennt bei Schüler*innen keine »normative Verpflichtung, einen Computer zu besitzen«. Die Schule solle mit ihrem pädagogischen Konzept für Gerechtigkeit sorgen.
Jörg Freese hatte im vergangenen Sommer auf Bitte seiner Sekretärin bescheinigt, dass der Schüler für seine schulischen Aufgaben zu Hause einen Computer benötigt. »Mir liegt sehr an der digitalen Ausstattung unserer Schule. Auch zu Hause haben die meisten Schüler digitale Endgeräte, mit denen sie Präsentationen vorbereiten können«, erklärte er. »Als Schule wollen wir für alle die gleichen Bildungschancen schaffen - anstatt die finanzielle Ungleichheit noch zu zementieren.«
Die Bildungsverwaltung hatte darauf verwiesen, dass an der Schule 78 Computer vorhanden seien. Daraufhin hakte Richter Kanert nach, ob der Schüler nicht dort seine Hausaufgaben erledigen könne. Schulleiter Freese erklärte: »Außerhalb der Unterrichtszeiten sind die Klassenräume und der Computerraum geschlossen. Ohne Aufsicht können die Schüler die PCs dort nicht nutzen.« Der Richter fragte Freese, ob dieser denn Schulkinder am Computer zu Hause ständig beaufsichtigt seien. Dieser verneinte: »Es geht nicht darum, dass die Eltern ständig neben ihren Kindern am Computer sitzen müssen, sondern um die schulische Aufsichtspflicht. Aber Schüler recherchieren ja auch über die Schulaufgaben hinaus in ihrer Freizeit.« Freese hätte sich gewünscht, dass die Philosophie »Jedes Kind soll über ein digitales Endgerät verfügen« umgesetzt wird.
Der Rechtsanwalt des jungen Klägers nannte die vor dem Sozialgericht gefundene Lösung »ausreichend, aber keinesfalls optimal«. Wie Schulleiter Freese ist er der Ansicht: »Bildung findet nicht nur in der Schule statt.«
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