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Seele, Suff und Führerkult
»Ziemlich beste Nachbarn« geht im Europawahljahr auf die Suche nach nationalen Stereotypen
Mit Klischees ist das so eine Sache. Wer sie widerlegen will, muss sich ihrer zunächst bedienen, pumpt also abermals in die Welt der Kommunikation, was eigentlich aus ihr verschwinden sollte. Nach diesem Prinzip schaffen es besonders rechte Populisten seit Jahren, den Diskurs zu diktieren. »Agenda-Setting« nennt man das in der Kommunikationswissenschaft. Auch die öffentliche Entlarvung der Lüge sorgt am Ende ja dafür, dass über sie gesprochen wird. Es ist ein Teufelskreis.
Ein Fernsehformat, das nationale Stereotypen durch eingehende Prüfung widerlegen will, ist daher ebenso mit Vorsicht zu genießen wie jedes einzelne Vorurteil selbst. Da wirkt es also ungewollt manipulativ, wenn der wunderbare Komiker Michael Kessler im Vorfeld der Europa-Wahl durch ausgesprochen vorurteilsbehaftete Länder reist, um nach Darstellung des ZDF »mit Witz und Neugier zu erspüren, was dran ist an den zum Teil liebgewonnenen Klischees«. Zum Auftakt des Dreiteilers »Ziemlich beste Nachbarn« wären dies: Russlands Seele, Suff und Führerkult, gefolgt vom italienischen Dolce-Vita-Dreigestirn Spaghetti, Vespa, Schürzenjäger, bevor uns England als Ort exzentrischer Spleens, geordneter Schlangen und schlechter Küche dargeboten wird.
Kein Wunder, dass Kesslers erster Fremdenführer Wladimir Kaminer Wodka und Kaviar demonstrativ ablehnt, als er sie ihm zur Begrüßung auftischt. »So sind die Russen nicht«, sagt der Schriftsteller in seiner Wahlheimat Berlin und fordert: »Fahr doch mal hin!« Nach Sibirien etwa, größer als ganz Europa und gerade im Winter - nicht jedes Klischee ist konstruiert - richtig arschkalt. Hier also geht Michael Kessler auf Klischeefang. Beim Eisfischen und beim Kirchgang, in Plattenbauten und Balletttheatern, unter Oligarchen und Oppositionellen, mit Fellmütze und Experten zur Seite. Die Mission: Stereotype auf empirische Belastbarkeit hin abklopfen.
Auf kaum 45 Minuten Länge muss das nicht nur für die knapp 145 Millionen Bewohner des größten Staates der Erde krachend scheitern. Auch den Rollenzuweisungen von England bis Italien kommt man in so kurzer Zeit nicht bei. Auch wenn wir erfahren, dass Russen nicht Herrschaft, sondern Ordnung lieben und weniger saufen als wir Deutsche, sorgt der Versuch, sie auszuräumen eher fürs genaue Gegenteil.
Dass »Ziemlich beste Nachbarn« dennoch irgendwie sehenswert ist, liegt daher mal wieder an: Michael Kessler. Wie in baugleicher Alltagskomik von »Kesslers Knigge« über »Kesslers Nachttaxe« bis »Kesslers Expedition« klingt er auch unter der Regie von Oliver Halmbacher selbst dann irgendwie heiter, wenn er mal nicht die Wirklichkeit persifliert, sondern Wahrhaftigkeit sucht. Seit der gebürtige Wiesbadener als Parodist der Pro7-Show »Switch reloaded« vor 20 Jahren die Durststrecke nach seinem Durchbruch 1991 mit dem Klischeeklamauk des Spielfilms »Manta Manta« beendet hat, seziert er deutsche Befindlichkeiten schließlich mit einem Ernst von nonchalanter Leichtigkeit.
Anders als Kollegen wie Matthias Matschke oder Bjarne Mädel steckt der 51-Jährige damit zwar weiter in der Schublade des anspruchsvolleren Fernsehhumors. Wichtiger als alle Selbstbefreiung, sagte er 2016 zum Start seiner heiteren Geschichtsstunde »Das Jahrhunderthaus«, sei es ihm, das Publikum »jenseits vom Einheitsbrei unterhaltsam zu überraschen und somit ans Fernsehen zu binden«. Genau das gelingt ihm trotz kurzer Popularitätsdelle in den Neunzigern seit fast 30 Jahren so gut, dass von »Schillerstraße« über »Pastewka« bis zur Personality-Show »Kessler ist …« zeitloses Entertainment bleibt, dass sein Medium nicht nur verfüllt, sondern nachhaltig bereichert.
Damit der Moderator das auch mit »Ziemlich beste Nachbarn« schafft, wäre ihm bei einer möglichen Fortsetzung definitiv ein wenig mehr Sendezeit als eine Dreiviertelstunde pro Nation zu gönnen. Also ausnahmsweise lieber länger in der Nische von Neo als zu kurz in der Primetime des ZDF. Darauf einen Wodka!
Morgen, ZDF, 20.15 Uhr. Weitere Folgen: 12. und 19. März.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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