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Einmal Heimkind, immer Heimkind
Neue Fallstudie zu sexualisierter Gewalt in Institutionen und Familien der DDR
Sexualisierte Gewalt gegen Kinder gab es auch in der DDR: in Familien, in Kinderheimen und Jugendwerkhöfen. In einer aktuellen Fallstudie werden Verbrechen dieser Art als »sexueller Kindesmissbrauch« zusammengefasst. Vorgestellt wurde die Untersuchung von der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs am Mittwoch in Berlin.
Für die Studie wurden von der Kommission 105 Betroffene vertraulich angehört und 34 schriftliche Berichte ausgewertet. Das gemeinsame Fazit für beide Bereiche lautet: Das Thema wurde in der DDR weit mehr und länger tabuisiert als in den alten Bundesländern. Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Bezug auf die beiden Staaten herauszufinden, war eines der Ziele der beteiligten fünf Wissenschaftler. Die Tabuisierung in der DDR hatte auch systemspezifische Ursachen: So gab es das Dogma von der Entwicklung hin zu einer »deliktfreien Gesellschaft«, in der es folglich auch keine sexuelle Gewalt geben konnte, wie die Sozialpädagogin und Mitautorin der Studie, Cornelia Wustmann, zusammenfasst.
Da die Familie in der DDR quasi unter den Schutz der Gesellschaft gestellt stand, einschließlich des wichtigen Erziehungsauftrages, sorgten Täterinnen und Täter dafür, dass nichts von den Vergehen gegen die Kinder nach draußen drang. Die »sozialistische Familie« wurde nach außen hin als funktionierend dargestellt. Wustmann, die aus der DDR stammt, berichtete außerdem von einer Armutsrate von zehn Prozent im Jahr 1988, und zwar trotz staatlicher Sozialpolitik. Offenbar waren bei den in der Studie erfassten Fällen nicht wenige der Betroffenen in solchen »prekären Lebenslagen« aufgewachsen. Extreme Armut, Gewalt und Alkohol spielten eine wichtige Rolle. Die Opfer sexualisierter Gewalt nahmen ihre Familien als Orte sozialer Kälte wahr. Hilfesysteme, die heute existieren, bestanden nicht. Im Gegenteil, die Kommission fand auch einige wenige Betroffene, bei denen sich die Gewalterfahrung in der Familie dann in den staatlichen Heimen fortsetzte. In der Zusammenfassung der Studie wird jedoch darauf hingewiesen, dass diese Grenzverletzungen in allen Schichten und Berufsgruppen stattfanden, auch jenseits wirtschaftlicher Notlagen.
In die Studie wurden Berichte von 11 Männern und 18 Frauen einbezogen, die in ihrer Kindheit in Heimen und Jugendwerkhöfen leben mussten. Als Tatorte sexualisierter Gewalt wurden aber auch Schulen, Musikschulen oder die Freizeiteinrichtung Pioniereisenbahn benannt. Insbesondere für Heime und Jugendwerkhöfe galt und gilt bis heute ein weiterer Tabuisierungsfaktor. Mit dem Untergang der DDR und ihrer Institutionen kam es gerade nicht zu einem befreienden Effekt für die damals dort Internierten. Denn es hält sich die Auffassung, dass dort nur Kleinkriminelle einsaßen, die sowieso lügen würden. »Einmal Heimkind, immer Heimkind«, fasst das Corinna Thalheim zusammen. Sie war als Jugendliche in den Jugendwerkhöfen Wittenberg und Torgau und engagiert sich heute unter anderem als Gruppenleiterin von »Verbogene Seelen«, der bundesweit einzigen Selbsthilfegruppe für Opfer sexuellen Missbrauchs in den DDR-Heimen. Laut ihrem Bericht wurde sie 1984 wegen einiger Tage Schulbummelei »zwangsausgeschult«, 1985 zum ersten Mal in einen Jugendwerkhof eingewiesen. Sie konnte dreimal weglaufen und kam schließlich für dreieinhalb Monate in den Jugendwerkhof Torgau. Sie spricht davon, dass hier mit Gewalt und Missbrauch Menschen gebrochen wurden. Thalheim berichtet, wie schwer es Betroffenen bis heute falle, das Geschehene zu benennen, angefangen bei übergriffigen »Waschkontrollen«, die regelrecht zur »Heimkultur« gehörten. Flucht- und Suizidversuche führten zur Verlegung in restriktivere Heime.
An den körperlichen, psychischen, sozialen und materiellen Folgen leiden die Frauen und Männer bis heute. Bei fast allen besteht Therapiebedarf, dem kaum entsprochen wird. Verjährungsfristen für sexuellen Missbrauch verhindern häufig eine strafrechtliche Verfolgung der Täter*innen. Hilfeleistungen gibt es kaum, das Opferentschädigungsgesetz berücksichtigt die DDR-Fälle nicht. Für Leistungen aus einem speziellen Hilfesystem einiger Bundesländer sind die Antragsfristen vor mehr als einem Jahr abgelaufen.
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