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Verschmäht und verleumdet
Eine Geschichte der ungarischen Räterepublik von 1919
Es ist angezeigt, diesen unlängst im Wiener Promedia-Verlag erschienenen bemerkenswerten Sammelband vorzustellen und zu lobpreisen. Es ist eine sehr verdienstvolle Publikation, nicht nur, weil sie an ein weithin vergessenes historisches Ereignis erinnert, an die Rätemacht, die Ungarn vom 21. März bis 1. August 1919 regierte, sondern auch, weil diese im eigenen Land heute verschrien, verschmäht, verleumdet wird.
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Christian Koller/Matthias Marschik (Hg.): Die ungarische Räterepublik 1919. Innenansichten. Außenperspektiven. Folgewirkungen.
Promedia-Verlag, 277 S., br., 21,90 €.
17 Beiträge von Historikerinnen und Historikern aus Österreich, der Schweiz, Deutschland, Ungarn und den USA sind hier vereint. Es ist keine Übertreibung, wenn man ihnen bescheinigt, eine offenkundige Lücke in der Historiografie zu schließen mit ihrer profunden Darstellung der Ziele, Pläne und Ideale der Räterepublik wie auch deren Beziehungen zu anderen Staaten sowie deren Nachwirkungen, Interpretationen und Rezeptionen. Darüber hinaus vermittelt der Band wichtige Anregungen für weitere notwendige Forschungen und Diskussionen.
Die Geschichtsforschung im deutschsprachigen Raum schenkte der ungarischen Räterepublik in der Vergangenheit wenig Beachtung. Treffend bemerken die beiden Herausgeber Christian Koller und Matthias Marschik in ihrem Einleitungsbeitrag »Mehr als eine ›Diktatur der Verzweiflung‹. Die ungarische Räterepublik 1919 und ihr Nachwirken«: »Ambivalenzen, Zweideutigkeiten und Heterogenitäten prägten das Bild der ungarischen Räterepublik schon seit dem Zeitpunkt ihrer Existenz und schrieben sich durch Jahrzehnte retrospektiver Einschätzungen und Zuschreibungen fort … Abgesehen von einigen in der DDR, speziell in den 1950er Jahren erschienenen Rückblicken und einigen ungarischen Veröffentlichungen der 1970er Jahre überwiegt ein negativ konnotierter, quasi ›westlicher‹ Diskurs, der auf Chaos und Willkür fokussiert ist und die Machtergreifung von ›Reichsverweser‹ Miklós Horthy als logische Konsequenz sieht.«
Im Gegensatz dazu bewertet dieser Sammelband die ungarische Räterepublik als das, was sie gewesen ist - als die erste friedliche Machübernahme einer kommunistischen Regierung in Mitteleuropa, die dann aber an ihren überzogenen Erwartungen, der Radikalität und Rasanz ihrer Umsetzung, ebenso wie bei der Zusammenarbeit mit den Linkssozialisten, am »weißen« Gegenterror, am Widerstand der Siegermächte des Ersten Weltkrieges und nicht zuletzt an der Unfähigkeit, dem selbst definierten Staatsgebiet den unerlässlichen militärischen Schutz zu geben, gescheitert ist.
Die unmittelbaren Ursachen für ihre Entstehung sehen die Autoren und Autorinnen in den extremen Gebietsverlusten Ungarns gegen Ende des Ersten Weltkrieges sowie im Scheitern der Regierung von Graf Mihály Károlyi (der im Zuge der »Astern-Revolution« im Oktober 1918 die Republik Ungarn ausgerufen hatte) beim Aushandeln eines akzeptablen Abkommens mit den Siegermächten und bei dem Versuch, eine innere soziale und ökonomische Stabilisierung des Landes zu erreichen.
Herausgestellt wird im Band die Verantwortung des aus Moskau zurückgekehrten Kommunisten und Journalisten Béla Kun für die konkrete Ausgestaltung der Räterepublik. Obwohl offiziell »nur« Volksbeauftragter für Außenbeziehungen, entwickelte dieser die entscheidenden Pläne für die Verstaatlichung von Banken, Betrieben und Großunternehmen sowie für eine umfassende Bodenreform.
Aus Platzgründen kann hier nicht auf alle gehaltvollen Beiträge eingegangen werden. Für besonders wichtig hält der Rezensent aber die Einschätzung von Karl-Heinz Gräfe in dessen Beitrag »Mythos und historische Wirklichkeit eines Weltereignisses«: »Die ungarischen Revolutionen im Oktober 1918 und März 1919 waren Teil eines von der russländischen Revolution ausgelösten weltgeschichtlichen Revolutionszyklus. Die zur bürgerlich-kapitalistischen Welt zwischen März und August 1919 entstandene alternative Gesellschaftsordnung Räteungarns ist der Grund, warum Ereignis und Hauptakteure bis heute so kontrovers beurteilt werden.« Auch Herausgeber Koller ordnet die ungarische Räterepublik der Länder und Kontinente übergreifenden Rätebewegung nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zu.
Andere Beiträge befassen sich mit speziellen, neuen Aspekten zum ungarischen Rätesystem, so Edward Sanders mit der dominierenden Persönlichkeit Béla Kuns, Albert Dikovich mit der wichtigen Rolle der Intelligenz, darunter der Philosoph Georg Lukács, Katalin Keller mit Kulturkonsum und Konsumkultur am Beispiel des Budapester Buchwesens, Boldizsár Vörös mit dem Stadtbild Budapests zur Zeit der Räterepublik sowie Veronika Helfert und Judith Szagor mit der Theorie und Praxis einer umfassenden Gleichberechtigung der Geschlechter in der Räterepublik. Julia Richers und Regina Fritz setzen sich mit dem Vorwurf des »Judeo-Bolschewismus« und dessen Folgen für die jüdische Gemeinschaft in Ungarn auseinander und Bela Bodo mit dem Roten und Weißen Terror in Ungarn 1919 bis 1921.
Besonders interessant sind die Ausführungen von Arpád von Klimó und David Tréfás über die ambivalente Rolle der Räterepublik in der ungarischen Historiografie und Erinnerungskultur. Es bleibt anzuwarten, wie in diesen Tagen Ungarn der Ereignisse gedenkt. Ahistorisch, ist zu befürchten.
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