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- EU-Gipfel zum Brexit
Petitionen und Krisenstäbe: »Niemand weiß, wohin die Brexit-Reise geht«
EU und Großbritannien einigen sich auf Brexit-Verschiebung bis zum 12. April / Zwei Millionen Briten fordern Brexit-Absage / Britische Armee richtet Krisenstab in Bunker ein
Brüssel. Der Brexit ist verschoben und ein chaotischer EU-Austritt Großbritanniens zunächst abgewendet. Die EU und die britische Premierministerin Theresa May einigten sich in der Nacht zum Freitag auf eine Verschiebung des EU-Austritts. Der Kompromiss sieht einen Aufschub des Brexits bis mindestens zum 12. April vor. Sollte das britische Unterhaus dem bereits ausgehandeltem Brexit-Abkommen nächste Woche zustimmen, soll der Austritt am 22. Mai geregelt über die Bühne gehen. Ohne Teilnahme würde Großbritannien dann ungeordent austreten. Gelingt eine Einigung in Großbritannien nicht, kann Großbritannien bis zum 12. April neue Vorschläge machen.
Die britische Premierministerin Theresa May appellierte an das britische Parlament, den Vertrag mit der EU doch noch zu billigen. Das Unterhaus hat den Vertrag allerdings bereits zwei Mal abgelehnt. Der Brexit-Prozess führt zu großer Anspannung im britischen Unterhaus, viele Abgeordnete klagen über Beschimpfungen und Einschüchterungen. Ein Vizesprecher des Parlaments empfiehlt Vorsichtsmaßnahmen, darunter unter anderem: die Bildung von Fahrgemeinschaften für Parlamentarier.
Eine Hölle für Parlamentarier?
EU-Ratschef Donald Tusk hat die Brexit-Debatte dabei erneut mit einem Kommentar zur Hölle befeuert: »Unserem Papst zufolge ist die Hölle immer noch leer und das bedeutet, dass es noch viel Platz gibt.« Das antwortete er in der Nacht zum Freitag in Brüssel auf die Frage, ob die Hölle seiner Meinung nach für jene Abgeordneten vergrößert werden sollte, die kommende Woche erneut gegen den vorliegenden Brexit-Vertrag stimmen sollten. Tusk hatte bereits Anfang Februar mit einem Kommentar zur Hölle für Verärgerung in Großbritannien gesorgt. Damals sprach er von einem »besonderen Platz in der Hölle« für jene Brexit-Verfechter, die keinen Plan für den EU-Austritt hätten.
May wollte eigentlich einen Aufschub bis zum 30. Juni erreichen. Doch die EU sah die Europawahl vom 23. bis 26. Mai als entscheidende Hürde. Der zweistufige Beschluss zur Verschiebung orientiert sich an diesem Datum: Der 22. Mai ist der letzte Tag vor der Wahl. Wird der EU-Austrittsvertrag rechtzeitig beschlossen und ratifiziert, steht einem geordneten Ausscheiden nichts mehr im Weg. Ein Chaos wäre abgewendet. Der 12. April ist der Tag, an dem Großbritannien spätestens entscheiden müsste, ob es an der Europawahl teilnimmt. Wollte es noch einige Monate EU-Mitglied bleiben, müsste es die Wahl abhalten und Europaabgeordnete bestimmen.
Harte Brexit-Befürworter in Mays konservativer Partei sind gegen den von May ausgehandelten Brexitvertrag, weil sie eine zu enge Bindung an die EU fürchten. Sie machen dies an der Garantie für eine offene Grenze in Irland fest, dem sogenannten Backstop. Demnach soll Großbritannien in der EU-Zollunion bleiben, bis eine bessere Lösung gefunden ist. May hatte vorige Woche neue Zusagen von der EU bekommen, dass dies nicht als Dauerlösung gedacht ist. Diese wurden vom EU-Gipfel jetzt auch bestätigt.
Neue Versicherungen
Denn: Durch den Gipfel-Beschluss wird das so genannte »Instrument« zum Austrittsvertrag nun aufgewertet. Dies könnte es May laut Diplomaten ermöglichen, den unveränderten Austrittsvertrag erneut im britischen Unterhaus zur Abstimmung zu stellen. Dies hatte Unterhaus-Sprecher John Bercow diese Woche abgelehnt, weil nicht erneut über eine unveränderte Vorlage abgestimmt werden könne. Er berief sich dabei auf eine Parlamentsregel aus dem Jahr 1604.
Mit dem vierseitigen »Instrument« wurde ein Brief von Juncker und EU-Ratspräsident Donald Tusk vom Januar in eine rechtliche Form gegossen. In dem Dokument wird betont, dass beide Seiten »nicht wünschen«, dass die umstrittene Auffanglösung zur Verhinderung von Grenzkontrollen zwischen der britischen Provinz Nordirland und dem EU-Mitglied Irland überhaupt in Kraft tritt.
Gegen das Abkommen hat auch die nordirische DUP gestimmt, auf deren Unterstützung May im Unterhaus angewiesen ist. Die oppositionelle Labour-Partei trägt den Deal ebenfalls bisher nicht mit, weil ihr die künftige wirtschaftliche Bindung an die EU nicht eng genug ist. Sie will eine dauerhafte Zollunion und eine Anbindung an den Binnenmarkt. Die Ablehnung des Parlaments war Hintergrund von Mays Bitte auf Aufschub. Sie hat angekündigt, dass sie einen dritten Anlauf im Unterhaus starten möchte.
Brexit einfach absagen?
Beim Brexit-Referendum 2016 hatten 52 Prozent der Briten für den EU-Austritt gestimmt und 48 Prozent dagegen. Beim Referendum über den EU-Austritt im Jahr 2016 stimmten 17,4 Millionen Briten für den Brexit. Kaum ein britischer Politiker will sich über das damalige Mehrheitsvotum hinwegsetzen, ohne nicht zumindest eine zweite Volksabstimmung abzuhalten.
Viele Briten scheinen inzwischen das Gezerre um den EU-Austritt satt zu haben. Mehr als 2,2 Millionen Menschen unterzeichneten bis zum frühen Freitagmorgen eine ans Unterhaus gerichtete Online-Petition, in der gefordert wird, den Brexit einfach abzusagen und in der Europäischen Union zu bleiben. Zeitweise war die Webseite wegen des Ansturms nicht zu erreichen.
»Die Regierung behauptet immer wieder, der Austritt aus der EU wäre der «Wille des Volkes», heißt es in dem Petitionstext. Dem müsse ein Ende bereitet werden, indem die Stärke der öffentlichen Unterstützung für einen Verbleib deutlich gemacht werde. Das Parlament muss den Inhalt jeder Petition mit mehr als 100 000 Unterzeichnern für eine Debatte berücksichtigen.
Armee baut Einsatzzentrum in Bunker für No-Deal-Szenario auf
Das britische Verteidigungsministerium hat derweil für den Fall eines EU-Austritts Großbritanniens ohne ein Abkommen ein Einsatzzentrum in einem atombombensicheren Bunker im Zentrum von London eingerichtet, sagte ein Ministeriumssprecher am Donnerstag der Nachrichtenagentur AFP. Dort gebe es die notwendige Infrastruktur und «ein Team, das bereit ist, jede Maßnahme zu unterstützen, wenn sie nötig wird».
Im Dezember hatte das Verteidigungsministerium mitgeteilt, dass 3500 Soldaten bereitgestellt würden, um die Regierung im Fall eines ungeordneten Brexit bei unvorhergesehenen Entwicklungen zu unterstützen. Britischen Medien zufolge befindet sich der genannte Bunker unter dem Hauptgebäude des Verteidigungsministeriums in Whitehall. Er wird in Zeiten des nationalen Notstands genutzt.
Die Armee könnte den Berichten zufolge nach dem Brexit zum Einsatz kommen, um Lebensmittel, Treibstoff und andere Güter ins Land zu bringen und zu verteilen, wenn es zu Verzögerungen des Warenverkehrs an den Landesgrenzen kommt. Dieses Kontingent sei nun «in Bereitschaft», sagte der Ministeriumssprecher. Der Kriseneinsatz der Armee für den Brexit mit dem Namen «Operation Redfold» war bereits Anfang der Woche gestartet worden.
Historiker: Unterhaus wird Deal erneut ablehnen
Der britische Historiker Ian Kershaw rechnet damit, dass das Unterhaus den Brexit-Deal von Premierministerin Theresa May in der kommenden Woche zum dritten Mal ablehnen wird, falls es zu einer neuen Abstimmung kommen sollte. «Ich vermute, dass es zum dritten Mal nicht durchgeht», sagte Kershaw am Donnerstagabend bei der Lit.Cologne in Köln.
Möglicherweise werde die britische Regierung dann einen wesentlich längeren Aufschub des Brexits bei der EU beantragen, um einen ungeregelten Austritt am kommenden Freitag zu verhindern. Nach Einschätzung Kershaws wäre dann «ein Rücktritt von Theresa May möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich». Der Deal müsse dann noch einmal ganz neu durchdacht werden.
Das seien aber alles Spekulationen, betonte der international bekannte Autor («Hitler»/«Höllensturz»). «Niemand hat eine gute Vorstellung davon, wie es ausgehen wird.» Die Briten verstünden selbst nicht, was derzeit vor sich gehe. «Die alten Sicherheiten verschwinden», sagte Kershaw. «Niemand weiß, wohin die Reise geht.» Im Voraussagen der Zukunft seien Historiker im übrigen genauso schlecht wie alle anderen. «Man kann das nicht voraussagen, weil so viele Dinge dazwischenkommen können. Agenturen/nd
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