Vom Nazireich zum Nierentisch

Harald Jähner erzählt in seinem Buch »Wolfszeit« kenntnisreich von Deutschland und den Deutschen im ersten Nachkriegsjahrzehnt.

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Was war mit den Deutschen los, nachdem sie den Krieg verloren hatten? Der Kulturjournalist Harald Jähner, bis zum Jahr 2015 Feuilletonchef der »Berliner Zeitung«, gibt auf diese Frage unter dem Titel »Wolfszeit« Antworten, die diesem alles in allem dunklen Jahrzehnt keinen Ruhmesplatz in der deutschen Geschichte einräumen. Mit seinem Buch legt er eine Mentalitätsgeschichte vor, die man aus heutiger Sicht mit seiner letzten Kapitelüberschrift zusammenfassen kann: »Ein Wunder, dass das gutgegangen ist«.

Der zweite Weltkrieg innerhalb eines Vierteljahrhunderts war von den Deutschen entfesselt worden, hatte Millionen von ihnen in unbeschreibliche Verbrechen verstrickt, viele von ihnen wohnungslos gemacht. Eigentlich waren sie nicht vor die Wahl gestellt, ob sie sich als Opfer dieses Krieges und des Nationalsozialismus sehen oder doch eher über ihren Anteil an der Katastrophe nachdenken sollten. Aber sie entschieden sich in ihrer großen Mehrzahl für die Opferrolle.

Jähner schreibt über das »beredte Verschweigen« sowohl der eigenen Schuld als auch des Leids der Millionen Opfer. Stattdessen krempelte man - am Anfang waren es überwiegend Frauen - die Ärmel hoch und begann mit dem Wiederaufbau des zerstörten Landes und mit der Wiedergewinnung von Lebensfreude. In dem Teil, der bald »Bundesrepublik« heißen sollte, übernahm man den westlichen Lebensstil, und in der entstehenden DDR pflegte man den sogenannten verordneten, von vielen dort aber auch geteilten Antifaschismus. Jähner erzählt von Tanzwut im Westen, vom beginnenden Kalten Krieg, der Einflussnahme der Besatzungsmächte und ihrer mit politischen Aufgaben betrauten Geheimdienste.

In zehn Kapiteln beschreibt der Autor die äußere Entwicklung in diesem aufregenden, heute schon kaum mehr der Zeitgeschichte zugerechneten Jahrzehnt. Seine Darstellung würzt er mit Originalbeiträgen, griffigen Zitaten, Beispielen und zahlreichen vielsagenden Fotodokumenten. Zu allem werden die älteren unter seinen Leserinnen und Lesern jeweils Eigenes aus ihrem Erfahrungsschatz hinzufügen. Für diese Generation ist das Buch eine Wiederbegegnung mit ihrer eigenen frühen Biografie, für die Nachgeborenen kann es ein Schlüssel zum Verständnis dessen sein, was dieses inzwischen vereinigte Deutschland immer noch so rätselhaft macht.

Besonders erschütternd sind die Kapitel über die »Umerzieher«, etwa Alfred Döblin, der im Auftrag der französischen Besatzungsmacht ohne großen Erfolg an der Entwicklung einer demokratischen Gesinnung seiner Landsleute arbeitete. In der sowjetischen Besatzungszone versuchten sich viele frühere Hitlergegner - ebenso ohne großen Erfolg - am Aufbau einer anderen demokratischen Gesellschaft, die auch eine sozialistische sein sollte.

Der Versuch, in beiden sich auseinanderentwickelnden deutschen Staaten ein Bewusstsein von Schuld und Verantwortung für die an den Juden, politisch Andersdenkenden, Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen begangenen Verbrechen zu entwickeln, blieb in diesem Jahrzehnt - das wird in Jähners »Wolfszeit« sehr deutlich - auf Ausnahmen beschränkt. Weder die Kirchen noch andere Teile der Zivilgesellschaft oder Unternehmen bekannten sich zu ihrer Verstrickung oder ihrer aktiven Beteiligung an den nationalsozialistischen Verbrechen. Stattdessen wurde der imperiale Nazi-Stil in Architektur und Design von einer Nierentisch-Kultur abgelöst, stattdessen baute Beate Uhse ihr »Versandgeschäft für Ehehygiene« auf, stattdessen blühte zunächst der Schwarzmarkt. Und »Bürger lernten plündern«, wie Jähner einen Abschnitt seines Werks überschreibt. In Wolfsburg wurde bald der Grundstein für eine Automobil-Obsession der Deutschen gelegt, die man erst in jüngster Zeit beginnt, infrage zu stellen.

Selten gelingt es einem Buch, längst vergangene Zeitgeschichte so bildhaft, wahrhaftig und auch in seinen historischen Urteilen nachvollziehbar zu zeichnen. Harald Jähners »Wolfszeit«, das am Donnerstag mit dem Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, beweist, dass der Autor auch im großen Format fesselnd und auf hohem Niveau unterhaltend schreiben kann.

Harald Jähner: Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945 - 1955. Rowohlt Berlin, 477 S., geb., 26 €.

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